Die Himmelsbraut
Denn es war der Tag der Auferstehung, und sie hatten an der nächtlichen Ostermette teilgenommen, hatten gewacht und gebetet bis zur Eucharistiefeier im Morgengrauen. Nach dem Frühstück, gemeinsam mit den Nonnen, waren sie in einer großen Prozession durch ganz Marienau gezogen.
Antonia drehte sich mit einem Seufzer auf die Seite und versuchte vergebens, noch ein wenig zu schlafen. Es war schön gewesen, endlich der Klausur entkommen zu sein, die Sonnenstrahlen auf den Wangen zu spüren, als sie durch die Obstgärten und Wiesen geschritten waren, wo sich die ersten gelben und blauen Farbtupfer zeigten und die Amseln im Geäst das Morgenlob auf ihre Weise sangen. Da erst hatte sie erstaunt wahrgenommen, dass es Frühling wurde.
Und doch tat es weh, denn so bald würde sie nicht mehr dort hinauskommen. Nur in Ausnahmefällen und in Begleitung einer Nonne nämlich durften die Novizinnen die Klausur verlassen. Oder eben bei den Prozessionen an höchsten Feiertagen.
Als Antonia jetzt die Augen schloss, sah sie kahle Wände, dunkle Flure und enge Kammern vor sich, zugige Säle und eine Empore, deren Brüstung den Blick ins Kirchenschiff verhinderte. Das war ihr Zuhause, in dem sie sich von früh bis spät aufhielt, umfangen von mächtigen steinernen Mauern, während es draußen grünte und blühte. Sie hätte heulen können. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie plötzlich, was das Leben in Klausur bedeutete. Weggesperrt von Gottes schöner Natur, von allen Menschen, die männlichen Geschlechts oder keine Geistlichen waren. So lebten sie hier drinnen. Und wo kein Mauerwerk den Zugang nach draußen verwehrte, da waren es Gitter: Vor den Fenstern ihrer Schlafkammer, als Sprechgitter im Besuchszimmer, über der Brüstung der Nonnenempore. Schon lange sah Antonia den Nonnenchor nicht mehr als die ureigene Zufluchtsstätte der Frauen, wo sie ungestört ihren Gottesdienst verrichten konnten, wie man es ihnen einreden wollte. Im Gegenteil: Auch hier waren sie so etwas wie Gefangene. Die Kommunion spendete der Priester ihnen aus dem Verborgenen durch ein vergittertes Fenster in der Wand, gerade so, als seien sie alle aussätzig.
Am freiesten fühlte sie sich noch im Kreuzgang, wo sie wenigstens den Wind auf dem Gesicht spüren und den Regen riechen konnte. Wo es nach den Gräsern des Kreuzgartens duftete und wohin wenigstens ab und an Geräusche aus der Außenwelt drangen – das Wiehern eines Pferdes, das Knirschen von Wagenrädern auf dem Kies, das Kreischen eines Kindes von jenseits der Klostermauer. Manchmal glaubte sie sogar, Phillips Stimme zu hören.
Antonia warf die Decke von sich und richtete sich auf. Heute noch würde sie ihre Novizenmeisterin fragen, ob sie nicht bei der Pflege des Kräutergartens helfen durfte. Somit würde sie wenigstens hin und wieder Luft und Sonne zu spüren bekommen.
Um sich abzulenken, konzentrierte sich Antonia ganz auf den Unterricht, dessen Anforderungen immer höher wurden. So war die Magistra beispielsweise dazu übergegangen, sie kleinere Aufsätze in lateinischer Sprache verfassen zu lassen, mit Feder und Tinte, auf echtem, kostbarem Papier.
Bei einer dieser Übungen ging es um die Mahnung, sich dem Lateinstudium zu widmen als dem wahren Zugang zur Religiosität. Antonias Feder flog nur so über das Papier, kaum reichten ihr die beiden Blätter aus. Sie begann mit einem Lob auf die Klarheit der lateinischen Sprache, ging über zu ihrer Bedeutung für das Verstehen der Liturgie, schob eine spaßige Bemerkung ein über die Gefahr, im Chor einzuschlafen, wenn man kein Wort verstand, und endete mit dem Gedanken, dass trotz ihrer Liebe zu dieser wunderbaren Sprache zu überlegen sei, ob die heiligen Texte für den Gottesdienst angesichts der vielen ungebildeten Menschen nicht doch besser ins Deutsche zu übersetzen seien. Mit dem Satz «Wie vielen Gläubigen entgeht doch der Sinn tröstlicher oder belehrender Worte, da sie nicht die Bildung genossen haben, wie sie uns Novizinnen zuteil wird» schloss sie ihren Aufsatz.
Als ihre Magistra am nächsten Morgen mit einem Stapel Blätter in der Hand die Schulstube betrat, begann Antonias Herz erwartungsvoll schneller zu schlagen. Tatsächlich wurde sie gleich als Erste vor die Klasse gerufen. Doch auf dem Gesicht der Novizenmeisterin stand kein wohlwollendes Lächeln, ganz im Gegenteil.
«Schade, Schwester Antonia, ganz und gar schade. Von dir hätte ich Klügeres erwartet. Eine meiner besten Schülerinnen – und dann so etwas!
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