Die Himmelsleiter (German Edition)
das Jahr 1702 überliefert. Damals soll eine dreißig Meter hohe Wasserwand mehr als einhundert tausend Menschen das Leben gekostet haben. Auch die Riesenwelle nach der Vulkanexplosion von 1882 auf Krakatau tötete Unzählige. Selbst in Lissabon kamen im Jahre 1775 Tausende ums Leben.
D er Tsunami ist eine seismische Wasserwelle. Obwohl manche von einer Flutwelle sprechen, hat der Tsunami nichts mit den Gezeiten zu tun. Tsunamis entstehen dann, wenn ein starkes Seebeben den Ozeanboden erschüttert.
Auf offener See sieht man den Tsunami nicht. Seine Höhe beträgt nur wenige Zentimeter. Dafür können die einzelnen Wellenkämme viele Kilometer, manchmal Hunderte davon, auseinanderliegen. Erst Satellitenaufnahmen geben Aufschlu ss über die tatsächlichen Größenverhältnisse. Dann durchqueren vier oder fünf Wellenberge in großem Abstand gemächlich den Ozean. Auf den Fotos gleichen sie Reifenspuren in der Wüste. Die Wellenfront kann tausend Kilometer breit sein, und ein Schiff, das ihren Weg kreuzt, wird eine Handbreit angehoben, um Stunden später in ein genauso tiefes Tal zu fallen.
Gefährlich wird der Tsunami erst an Land. Wenn er manchmal nach Tagen auf den Festlandsockel trifft, schieben sich die Wassermassen übereinander. Aus einer langen, niedrigen Welle wird so eine kurze, hohe Welle. Mit der Beständigkeit des Tsunamis ist es dann vorbei. Konnte er vorher tausend und mehr Kilometer unbeschadet zurücklegen, zerfällt er jetzt wie ein ganz gewöhnlicher Brecher. Was dann in wenigen Sekunden das Land verwüstet, ist nichts anderes als die stille Kraft, die vorher den Ozean unbemerkt durchmaß.
Womit hatte sich Altomonte zuletzt besch äftigt? Im Vorjahr hatte ich ihn anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für unser Magazin interviewt. Auch die ausführliche Würdigung seines wissenschaftlichen Werkes war meinen angestrengten Bemühungen entsprungen, dem Leser ein zusammenhängendes Bild seiner Leistungen zu präsentieren. Obwohl ich mich seit den Siebzigern vor allem mit Atomanlagen beschäftigte und einiges über Biochemie und Gentechnik wusste, war ich auch im Bereich der Teilchen- und Hochenergiephysik halbwegs auf dem Laufenden.
Trotz des Anrufes der geheimnisvollen Fremden war ich am Abend nach Hamburg zur ückgeflogen. Allerdings bat ich die Rezeption, alle Nachrichten zurückzulegen. Bald schon wollte ich zurück sein.
Dass ich Genf überhaupt verließ, hatte mehrere Gründe. Vor allem brauchte ich Abstand. Mit den Erinnerungen, die in den letzten Tagen mit der Heftigkeit von Träumen in mein Denken gedrungen waren, war auch eine alte, fast vergessene Unruhe wieder in mir erwacht. Dann hörte ich auf das angestrengte Pochen meines Herzens, lauschte der Angst nach, einer Angst, die erst ihre Vorboten wie umsichtige Protokollbeamte ausgeschickt hatte, die aber zweifellos persönlich erscheinen würde, wenn ich nicht wachsam war. Hamburgs nüchterne Unverbindlichkeit, so hoffte ich, sollte mir helfen, das innere Gleichgewicht wiederzufinden, das ich mir in den Jahren zuvor mühsam erarbeitet hatte.
Zum anderen mu sste ich in die Redaktion. Wenn ich weiter recherchieren wollte, brauchte ich einen offiziellen Auftrag. Schließlich gab es noch Meike, meine geschiedene Frau, mit der ich verabredet war und die ich nicht erneut versetzen wollte.
Den ganzen folgenden Tag verbrachte ich im Archiv, telefonierte herum und hatte schlie ßlich nur das aufgefrischt, was ich sowieso schon wusste. Niemand konnte mir weiterhelfen, und Altomontes neueste wissenschaftliche Veröffentlichungen waren nicht von heute auf morgen zu beschaffen. Außerdem hatte ich Zweifel, ob ich sie überhaupt verstünde.
Altomonte war f ür eine Entdeckung ausgezeichnet worden, die die Menschheit ihrem Traum unerschöpflicher Energievorräte hätte näherbringen sollen. Als engagierter Kritiker der Atomkraft hielt ich wenig von diesen gigantomanischen Anstrengungen, zumal ich die Gefahren der Kernfusion als kaum geringer ansah als jene der Atomspaltung.
Das Hauptproblem bei einem Fusionsreaktor liegt in der ben ötigten Temperatur. Erst bei hundert Millionen Grad oder mehr kommt die energiespendende Verschmelzung der Atomkerne richtig in Gang. Findige Physiker kamen deshalb auf die Idee, das Plasma von außen zu erhitzen. Mit Hilfe gebündelter Radiowellen können die Wasserstoffkerne wie in einer Mikrowelle aufgeheizt werden. Doch mit steigender Temperatur wird die Grenzschicht des Plasmas für die
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