Die Himmelsleiter (German Edition)
zu früh, so als habe sie es eilig gehabt, auf die Welt zu kommen. Sie war ein wunderschönes Kind. Ich sage das ohne Neid, denn es gab nichts an ihr, was an ihren Vater erinnert hätte.
WELT AM DRAHT
Für uns war der Jüngste Tag angebrochen, aber nur ich wusste es.
Den Augenblick zuvor würde das Leben in normalen Bahnen verlaufen - mit Leuten, die sich auf den Rollbändern drängten, mit dichtem Verkehr. Im Wald würden die Bäume wachsen und die Tiere äsen. Die sanften Wellen des Sees würden gegen den Strand schlagen.
Einen Augenblick später würde die ganze Illusion zerfallen. Das endlose Fließen der lebenserhaltenden Energieströme würde in Myriaden von Umwandlern plötzlich erstarren, im Sprung von Kathode zu Anode aufhören, im atemlosen Rasen über die Kontaktpunkte Tausender von Elektronenspeicher stillstehen. In diesem Augenblick würde die anheimelnde und überzeugende Wirklichkeit ausgelöscht werden - ein ganzes Universum in einem einzigen, endgültigen Augenblick totaler simulektronischer Entropie verloren sein.
Daniel F. Galouye
Es war kalt geworden, die Luft klar wie selten. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, und die Gipfel des Juras glitzerten weiß in der Mittagssonne. Als habe man eilig die schmutziggrauen Stellwände um die Stadt weggeräumt, öffneten sich überall neue Weiten. Die Berge waren nah an die Ufer herangetreten und türmten sich zu langen Ketten bis zum Horizont auf. Die Häuser hatten sich um das Wasser geschoben. Sie überzogen Bucht um Bucht wie eine wildwachsende Flechte. Nach Norden hin verlor sich der See. Im Rücken der Stadt sanftere Hügel. Straßen schlängelten sich hinauf zu Dörfern, von denen man nicht wusste, ob sie über den Niederungen thronten oder dorthin verbannt worden waren. Hin und wieder blitzte eine Windschutzscheibe in einer der Spitzkehren auf.
Wie üblich war ich zu früh. So umkreiste ich noch einmal den Jardin Anglais , bevor ich mich zu meinem Treffpunkt aufmachte. Es war zu kalt, um sich auf eine der Bänke zu setzen. Außer den üblichen Genfern, die wie zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre eleganten Hunde ausführten, war keine Menschenseele unterwegs. Selbst die Touristen mieden heute die langen Seepromenaden.
Am Quai Gustave Ador parkten nur wenige Autos. Ein paar Boote standen herum wie an Land gespülte Muscheln, aufgebockte oder auf dem Kiel liegende Barkassen, deren Farbe aufgesprungen und brüchig war, kleine Jachten und Boote, die unter einer dicken Persenning dem Sommer entgegen dösten. Die Segelboote füllten die Piers und die Landungsbrücken. Wie Entwässerungsgräben ragten die Stege in den See hinein, verschränkten sich ineinander, als handele es sich um eine richtige Hafeneinfahrt. Am Ende des Kais stand ein Leuchtturm, ein Türmchen mehr, das, was sich der durchschnittliche Tourist unter einem solchen Bauwerk vorstellen mochte. Obwohl das leichte Schaukeln der Boote die einzige Bewegung weit und breit war, wirkte die Szene seltsam belebt. Wäre diese eiskalte Brise nicht gewesen, die vom See her ins Rhônedelta hinauf blies, dem flüchtigen Ansehen nach hätte es früh im Sommer oder Herbst sein können.
Riva kam fast zehn Minuten zu sp ät, tat abgehetzt, entschuldigte sich, und ich war froh, ihn überhaupt noch auftauchen zu sehen. Am Morgen erst hatte ich ihn angerufen, und hatte ihn regelrecht bedrängen, mit verschwommenen Andeutungen ködern müssen, um die halbe Stunde zu ergattern, die er mir vor seinem Abflug nach Neapel opfern wollte. Während des Gesprächs würde er immer wieder prüfend auf den schweren vergoldeten Zeitmesser an seinem linken Handgelenk starren, als erwarte er dort Aufschluss über die Gründe, warum die eine Minute im Nu verging, während die andere sich endlos von einem Ufer des Sees zum anderen zu dehnen schien.
Riva hatte viel Ähnlichkeit mit Altomonte. Beide kamen aus dem Tessin, waren nur wenige Dörfer voneinander entfernt am Lago Maggiore aufgewachsen. So wie die italienische Schweiz den bestmöglichen Kompromiss zwischen mitteleuropäischer Ordnung und Tüchtigkeit auf der einen Seite und mediterraner Lebensart auf der anderen darstellte, strahlte auch Riva eine gezähmte, sozial verbindlichere Form des Italienischseins aus. Ihn begleitete eine heitere Gelassenheit, bei der von Oleandern und Geranien eingerahmte Steinhäuser vor dem inneren Auge auferstanden, freundliche und aufgeräumte Dörfer, die sich im lauen Wasser bei Lugano oder Locarno spiegelten. Bei
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