Die Himmelsleiter (German Edition)
die vielerlei Anregungen, die er aus Kalifornien mitgebracht hatte, trugen dazu bei, dass im verschlafenen Debattierclub der letzten Jahre die alte Aufbruchsstimmung wiederaufkam. Die Gruppe wurde größer, war besser organisiert und hatte bald vielfältige Kontakte zu Gleichgesinnten im In- und Ausland. Bald richtete sie einen Kongress aus, dem jährlich weitere folgen sollten. Eine Veranstaltungsreihe, die zumindest in Europa ohne Konkurrenz war. Altomonte taufte die Gruppe um und nannte sie in Anlehnung an die Abteilung, in der er in Santa Cruz gearbeitet hatte, Arbeitsgemeinschaft Dynamische Systeme .
In den voraus gegangenen Jahren hatte sich einiges getan. Die Chaos-Theorie hatte sich zu einem zusammenhängenden Ansatz entwickelt. Noch waren Altomonte und seine Leute weit davon entfernt, zum wissenschaftlichen Establishment zu gehören, sie waren aber keine belächelten oder gnadenlos verfolgten Rebellen mehr. Sie standen auf der Schwelle zum Durchbruch. Überall knisterte es im morschen Gebälk der traditionellen Physik. Mit kleinen Änderungen, Ausbesserungen, Verstärkungen hier und da, war es nicht mehr getan. Man würde nach und nach das alte Haus verlassen und es seinem Schicksal überlassen.
In unseren langen Gespr ächen versuchte Altomonte, mich mit den neuen Begriffen vertraut zu machen. Endlich hatte er Namen für das, was er jahrelang gespürt hatte, ohne es auf den Punkt bringen zu können. Trotz seiner Genialität hatte er andere gebraucht, Mandelbrot vor allem. Ich weiß nicht, ob ihn das betrübte, ob er sich manchmal wünschte, sein eigener Name sei unauflöslich mit der Pionierzeit der Chaos-Physik verbunden. Er war der Reisende geblieben, der rastlose Forscher, der sich auf allen Schauplätzen gleichzeitig tummelte, ohne je einen klaren, abgrenzbaren Beitrag geleistet zu haben. Doch seine Zeit sollte noch kommen.
Besonders die neue Geometrie hatte es ihm angetan. Er sprach viel von Fraktalen, jenen sich mit kleinen Abwandlungen wiederholenden Gebilden, die strenge Ordnung und fl üchtige Kreativität in sich vereinen: die Wellen des Meeres, die Dünen am Strand, die langen Küstenlinien und die Kämme der Berge, die Blätter einer Pflanze. All diese Dinge und einiges andere, dem man auf Kreta auf Schritt und Tritt begegnete, boten genug Anschauungsmaterial, wenn er von Selbstähnlichkeit oder gebrochenen Dimensionen sprach.
Eines dieser Gespr äche fiel mir ein, als Chloé mir an jenem Nachmittag auf ihrem Bett die Wirkungsweise des Vakuum-Blasen-Instantons erklärte.
Unsere Ferien neigten sich ihrem Ende entgegen, und wir sa ßen wie zwei alte Kretaveteranen in Shorts und Unterhemd oben auf unserer Klippe, tranken mit Wasser verdünnten Ouzo und streckten unsere verbrannten Beine in die Mittagssonne. Die Frauen, zwei winzige Punkte am menschenleeren Strand, würden erst am späten Nachmittag zurück sein. Altomonte hatte sein Haar ein wenig länger wachsen lassen und es zu einem Schwänzchen zusammengebunden. Auf dem Kopf trug er eine lächerliche weiße Kappe wie sie Kleinkinder am Strand aufhaben, darunter eine dunkle Sonnenbrille, die an einen kleinen Mafiagangster erinnerte. Mein eigenes Haar war damals schulterlang - es ging mir fast bis zur Brust -, und der ungepflegte Bart war zottelig wie bei einem Ziegenbock. Es gibt noch ein paar Bilder, auf denen ich wie ein hundertjähriger griechischer Viehhirte aussehe.
Wir redeten über das Wetter - es war heiß, aber angenehm windig - und mit Genugtuung stellte ich fest, dass wir den beiden Bayern zum Verwechseln glichen, die Meike und ich gleich bei unserer Ankunft in Heraklion kennengelernt hatten. Beeindruckend lässig hatten sie durchblicken lassen, sie lebten praktisch schon immer auf der Insel, drei, vier Monate oder mehr. Ganz nebenbei hatten sie uns die tägliche innere wie äußere Anwendung von Raki und Ouzo ans Herz gelegt. Das helfe gegen nahezu alle erdenklichen Beschwerden: Hunger, Depressionen, Sonnenbrand, Beinbrüche und einiges mehr. Dafür hatten wir ihnen eine Flasche spendiert.
Wenn ich sage, wir redeten über das Wetter, dann muss man sich das anders vorstellen als bei zwei Engländern, die um Konversation bemüht sind. Wenn Altomonte sich mit einem Thema beschäftigte, dann tat er das gründlich und erschöpfend. Er sprach also über das Wetter an sich.
Das Wetter sei ein gutes Beispiel f ür ein stabiles System, das zwar periodisch schwinge, sich aber dennoch nie wiederhole, meinte er. Es folge einer klaren
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