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Die Himmelsmalerin

Die Himmelsmalerin

Titel: Die Himmelsmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Rosenberger
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verdünnte es mit Wein und schattierte vorsichtig die Innenflächen der Figur Christi bei der Geißelung. Der Gottessohn hatte die Gestalt eines großen, schlanken Mannes angenommen, mit langem Haar und schmalen Händen, den er an einen Pfahl gefesselt darstellte. Zwei Schergen standen rechts und links und würden dem Menschensohn Schmerzen zufügen, wie sie seine irdischen Brüder auch erleiden mussten. Lionel gab dem Mann auf der rechten Seite das Gesicht eines Engels. Wie oft verbarg das Äußere oder der Stand, was wirklich in einem Menschen steckte? Christus hatte für alle Sünden gebüßt, die die Menschheit je begangen hatte und begehen würde, doch ob der Mord an einem vor Gott gewählten König darin eingeschlossen war, bezweifelte Lionel. Damit würde er nicht nur sein Leben, sondern auch seine ewige Seligkeit verlieren.
    Der hat begnadete Hände, hatte sein Meister Thierry im zweiten Jahr seiner Lehre über ihn gesagt. Vorher war niemandem eingefallen, ihn zu loben, weder seiner Familie, in der er sich durch verstocktes Schweigen hervorgetan hatte, noch den Franziskanern, in deren Kloster er als notorischer Unruhestifter aufgefallen war. Auch der Ritter, der ihn danach zu seinem Knappen ausbilden sollte, hatte Mühe gehabt, ihn zu bändigen. Den Schwertkampf hatte er zwar dank seiner enormen Geschicklichkeit und Kraft im Handumdrehen erlernt, aber der Disziplin des täglichen Trainings konnte er sich nicht unterwerfen. Nein, das Kriegshandwerk war nicht sein Geschäft. Das hatte er gefunden, als er zum ersten Mal ein Stück bemaltes Glas in den Händen gehalten hatte, in dem sich die Sonnenstrahlen brachen. Aber er hatte den Umgang mit Waffen nicht verlernt. Mit dem Messer war er ausgesprochen geschickt, musste es sogar sein, um kein Glas zu verschneiden. Sicher konnte er dem König die Kehle durchschneiden, ohne dass dieser vor seinem Tod unnötig leiden musste.
    In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ein, vierschrötig, bärtig, einer von Rotenecks Spießgesellen, die um das Haus herumlungerten und jeden seiner Schritte überwachten.
    »Meister Lionel«, sagte der Mann und spuckte auf den Boden. Lionel runzelte die Stirn.
    »Was willst du?«, herrschte er ihn an.
    »Ich, Ihr …« Der Mann druckste herum. »Herr von Roteneck hat einen Boten geschickt. Es geht um einen Zeitpunkt. Er sagte … Ihr wüsstet schon, welcher gemeint ist.«
    Lionels Blut gefror ihm in den Adern. Bis zur Ankunft des Königs war es noch eine knappe Woche, in der sie die restlichen Fenster fertigbrennen und einbauen mussten.
    »Er lässt Euch sagen …« Der Mann schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Der Einweihungsgottesdienst für das Chorfenster sei die rechte Zeit.«
    Schweigend wandte sich Lionel wieder seiner Arbeit zu und umriss den Kopf Christi mit einer dunklen Kontur. Das schulterlange Haar und den Bart würde er mit Silbergelb einfärben. Roteneck wollte den König also inmitten von Menschenmassen in der Franziskanerkirche sterben lassen. Ein Mord vor Zeugen, der dem Täter unverzüglich den Tod bringen würde. Und das war nicht alles. Im geweihten Raum vergossen, würde das Blut des Wittelsbachers den Franziskanerorden so weit schwächen, dass sein Ruf für lange Zeit beschädigt blieb, was wiederum dem Papst in Avignon in die Hände spielte. Du bist gar nicht so dumm, Roteneck! Lionel ballte seine Fäuste und starrte den nichtsnutzigen Raufbold seines Peinigers voller Abscheu an. Es war fraglich, dass er die Bedeutung der Botschaft kannte oder wusste, warum er den Glasmaler bewachen sollte.
    »Du kannst gehen!«, sagte Lionel und spürte das dringende Bedürfnis, den Nichtsnutz zu erwürgen, wenn er dort noch länger wie angewurzelt stehenblieb. Der Mann drehte seinen Hut in den Händen.
    »Und wenn Ihr Euch nicht daran haltet, sagt der Herr von Roteneck, dann schickt er einen Finger.«
    Der Gefolgsmann machte, dass er durch die Tür kam, denn Lionel hatte mit einer fließenden Bewegung Lenas Dolch ergriffen und schleuderte ihn. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, als das Messer mit zitterndem Knauf das Holz traf und genau waagerecht eindrang. Wer wusste schon, dass Lionel besser damit umgehen konnte als so mancher Vagant auf der Landstraße? Christus hatte sich willentlich in sein Schicksal gefügt. Das bringe ich nicht über mich, dachte er, stand auf und zog das Messer mit einer einzigen Bewegung heraus. Er würde es schleifen müssen.

    Vor der Tür packte Valentin der

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