Die Himmelsmalerin
und Lionel auch nicht …
Die Stunden zogen sich hin, langsam und ohne Gestalt. Lena konzentrierte sich auf die Innenseite ihrer Augenlider, auf der rote Feuerräder vorbeizogen. Vielleicht würde sie für immer hier liegen bleiben, bis sie gestorben war und der Welt nie wieder ins Auge blicken musste. Kein Anstetter mehr, der sie schlug und gefügig machen wollte, kein Vater, der langsam alt und krank wurde, kein Valentin, dem man einen Mord anlastete, den er nicht begangen hatte. Keine Stadt, in der man sich das Maul über sie zerriss. Kein Lionel, der ihren Engel eingesteckt hatte … Das alles ging sie nichts mehr an. Doch irgendwann, es musste kurz nach Mittag sein, merkte sie, dass sie unbedingt musste. Verflixt! Sie schälte sich aus dem verschwitzten Laken und zog den Behälter für die dringenden nächtlichen Bedürfnisse unter dem Bett hervor. In diesem Moment klopfte es energisch an die Tür.
»Lasst mich in Ruhe!«, rief sie.
Sie erleichterte sich, schob den Topf zurück und wickelte sich wieder in ihr Laken ein. Vielleicht stand ja der Anstetter unten im Hof, wenn sie ihn aus dem Fenster schüttete. Doch das Klopfen hörte nicht auf.
»Mach auf, Lena!«, drängte eine Stimme, die sie gut kannte. Der Burgunder hatte Wort gehalten und dafür gesorgt, dass Renata kam. Lena seufzte und schleppte sich, eingewickelt in ihr Laken, Schritt für Schritt zur Tür. Irgendwie erschien ihr die Strecke seit gestern länger. Mühsam schob sie die Truhe zur Seite und öffnete. Einen Moment später lag sie in Renatas Armen und weinte – einen wahren Sturzbach von Tränen, der einen Teil ihrer Traurigkeit mit sich hinwegspülte.
»Komm! Wir setzen uns«, sagte Renata nach geraumer Zeit und zog Lena zum Bett, wo sie ihr Gesicht inspizierte.
»Hat er dir das angetan, dein Bräutigam?«, flüsterte sie und berührte die Schramme auf Lenas Wange, die immer stärker pochte und stach.
»Das ist nur ein Kratzer«, sagte Lena kleinlaut und merkte, wie sie zu allem Überfluss noch rot wurde und nicht mal wusste, weshalb. Aber zwischen ihren geröteten Augenlidern, der geschwollenen Nase und der blutigen Schramme auf der Wange fiel das sicher nicht weiter auf.
»Das muss behandelt werden«, sagte Renata und holte frisches Wasser aus der Küche. Vorsichtig wusch sie Lenas Gesicht und legte ihr das ausgewrungene Tuch auf die Nase, die sie vorher gründlich inspiziert hatte.
»Gebrochen hat er sie dir jedenfalls nicht. Die Schwellung geht durchs Kühlen am besten zurück.« Dann sah sie Lena prüfend an. »Hat dich dein Bräutigam zu etwas gezwungen, was du nicht wolltest?«
Lena sah sie an. »Beinahe hätte er es geschafft. Jedenfalls hat er es versucht. Aber der Burgunder kam noch beizeiten …«
»Dann hat dieser Meister Lionel also recht gehabt. Aber Männern kann man ja in dieser Sache nicht immer trauen.«
»Sag, Renata.« Lena druckste herum. »Ist es immer so?«
Renata stutzte einen Moment, bis sie begriff, was ihre Freundin meinte. »O nein!« Sie legte den Arm um Lenas Schultern. »Das, was dein Bräutigam mit dir tun wollte, geschah aus Rachsucht und um dich zu demütigen. Wenn zwei sich lieben, kann es sogar ziemlich schön sein.«
»Das kann ich nicht glauben.«
»Du wirst es schon noch erfahren«, sagte Renata. Lena zweifelte daran und wechselte lieber das Thema.
»Und wo ist Franz?«
»Nun, den habe ich unten bei den Lehrbuben gelassen, die mit ihm sicher ein paar Streiche aushecken. Zur Arbeit sind sie heute sowieso nicht zu gebrauchen, sagt Meister Luginsland. Vielleicht futtert er inzwischen aber auch Marthas Vorratsschränke leer.«
Sie begann, Ringelblumensalbe auf Lenas Gesicht aufzutragen, die den Schmerz sofort linderte. »Wenn du die regelmäßig benutzt, wirst du keine Narbe davontragen.«
Lena zuckte die Schultern. »Das ist sowieso egal. Der Anstetter schaut ja doch nicht hin.«
Renata sah sie alarmiert an. »Aber Lena, du kannst doch keinen Mann heiraten, der dich zusammengeschlagen und beinahe vergewaltigt hat.«
»Aber das muss ich doch. Sonst geht die Werkstatt vor die Hunde. Sie ist Großvater Lamberts und Vater Heinrichs Lebenswerk.« Neue Tränen brannten in Lenas Augen.
Renata legte den Arm um ihre Schultern. »Du darfst nicht im Traum daran denken, diesem Tübinger noch einmal nachzugeben, egal, was Heinrich dazu sagen wird.«
»Und das alles nur, weil ich den Valentin davor bewahren wollte, als Mörder verurteilt zu werden.«
Ein verschmitztes Lächeln setzte sich in
Weitere Kostenlose Bücher