Die Himmelsmalerin
abzeichnete, den er immer weiter schnallen musste. Er trug einen lockigen Bart und hatte sich den Humor bewahrt, der sich in seinen grünen Augen spiegelte. Doch nicht nur sein gemütliches Äußeres hatte Lionel bewogen, Konrad in Freiburg einen Besuch abzustatten und ihm einen Vorschlag zu machen. In erster Linie war er ein ausgezeichneter Handwerker und vollkommen vertrauenswürdig – ein wichtiger Umstand für die Aufgabe, die Lionel ihm zugedacht hatte.
»Alles in Ordnung«, murmelte er und brachte Étoile auf Kurs.
Nebeneinander ritten sie über die Straße, die die äußere Neckarbrücke durch das sumpfige Pliensauviertel hindurch mit der Inneren Brücke verband und durchs Finstere Tor führte. Wenn man ihr folgte, kam man durch das Wolfstor schnurstracks wieder aus Esslingen heraus und auf die Handelsstraße in Richtung Ulm. Was wäre, wenn er, Lionel Jourdain, der Stadt einfach den Rücken kehrte und sein Leben weiterführte, so wie er es die letzten acht Jahre getan hatte? Ohne Verantwortung und ohne Verpflichtungen? Konrad Stocker würde den Auftrag schon zu Ende führen, auch wenn ihm noch wichtige Kenntnisse dafür fehlten. Aber er war nicht nur wegen des Chorfensters der Franziskaner zurückgekommen. Und so hielt er Kurs auf die Stadtkirche.
Trotz der fortgeschrittenen Stunde waren an den Straßenrändern Stände aufgebaut, an denen mit neuem Wein, Zwiebeln, Äpfeln, Kohl und anderen Feldfrüchten gehandelt wurde.
»Bei mir könnt Ihr Eure Vorräte auffüllen!«, rief eine dralle Blonde und deutete auf ihren Stand mit Brot und Wein. Lionel schüttelte lachend den Kopf.
Als er im Sommer zum ersten Mal in die Stadt gekommen war, hatte Frère Mort an der Ecke des Fischmarktes gestanden und ihm den Schrecken seines Lebens beschert. Er konnte nicht leugnen, dass er erleichtert war, ihn dort heute nicht zu sehen. Die einzige unangenehme Erfahrung beim Überqueren des Platzes war der Geruch von nicht mehr ganz frischem Neckarfisch. Lionel erzählte Konrad nichts von seiner Begegnung mit Pater Ulrich. Obwohl er schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet hatte, kannte dieser zwar Joèlles Namen, ahnte aber nichts von den Umständen ihres Todes.
Doch hier, in dieser viel zu engen Stadt, wartete auch Madeleine, und das ließ Lionels Herz klopfen. Étoile spürte seine Unruhe und setzte seine Hufe schneller auf. Joèlle, verzeih mir, dachte er wehmütig. Frère Mort war tot und Joèlle auch, und er spürte schmerzlich, dass er noch lebte.
Der Abend senkte sich über die Stadt. Als sie den Kornmarkt überquerten, leuchteten die Mauern der Stadtkirche St. Dionys golden, und die großen Häuser in der Webergasse warfen lange Schatten. Im Eingang der Apotheke genoss der Neffe der kräuterkundigen Apothekerin Renata die letzten Sonnenstrahlen und nickte Lionel und seinem Begleiter zu.
Das Tor zum Hof der Werkstatt Luginsland stand offen, denn die Köchin Martha war gerade dabei, einen Karren voller Kohlköpfe hineinzubefördern. Mit knallrotem Kopf stand die kleine Sanna am hinteren Ende und schob, erreichte aber nicht viel.
»Nun mach doch, Sannale!«, keuchte Martha, als der Wagen partout nicht über die Schwelle wollte. Lionel saß ab, übergab den Zügel von Étoile an Konrad und bugsierte den Karren in den Hof. »Voilà!«, sagte er, grinste und deutete eine Verbeugung an.
»Ah, Meister Lionel.« Die Köchin legte der kleinen Sanna, die hinter ihnen in den Hof getreten war, den Arm um die Schultern. »Man hat schon auf Euch gewartet.«
Er nickte. Die Glasfenster bemalten sich nicht von allein, aber mit Konrad und Madeleine würde er seinen Auftrag noch bis zum Besuch des Königs erfüllen. Sein Freund führte den prächtigen Weißen und seinen eigenen falben Wallach hinein und sah sich dann erwartungsvoll um.
»Wo ist die Werkstatt?«, fragte er.
Lionel deutete grinsend auf das Nebengebäude. »Du kannst es wirklich nicht abwarten.«
»Du weißt, dass ich immer sofort sehen muss, was du gemacht hast.«
»Morgen«, sagte Lionel verlegen. »Heute wartet der beste Keller Esslingens auf uns. Er kann sich zwar nicht mit meinem Keller daheim messen, aber für diese Gegend ist er … formidable .«
Konrad zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. Er lebte für die Glasmalerei, das wusste Lionel. Darum hatte er ihn auch auf seiner Rückreise aus Burgund in der Freiburger Münsterwerkstatt aufgesucht, und ihm eine Partnerschaft für den letzten Feinschliff und den Einbau der Gläser ins Chorfenster
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