Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
die Linke von der Klinge löste und das Schwert nur noch am Griff hielt, erlebte sie eine weitere Überraschung: Plötzlich störte sie sein trotz allem enormes Gewicht kaum noch. Der Griff schmiegte sich so selbstverständlich in ihre Hand, dass sie das Gefühl hatte, die Waffe wäre plötzlich zu einer natürlichen Verlängerung ihres Armes geworden. Erstaunt sah sie zu ihrer Mutter hoch, und wieder reagierte diese ganz anders, als Arri vermutet hatte. Trauer und Schmerz verschwanden aus ihrem Blick und machten einer wohlwollenden Zufriedenheit Platz. Sie hatte etwas gesehen, was sie nicht zu erwarten gewagt, wohl aber gehofft hatte.
Ohne ein Wort zu sagen, stand ihre Mutter auf, nahm ihr behutsam das Schwert aus der Hand und trug es zu seinem Platz an der Wand zurück. »Wenn du irgendwann einmal vor der Wahl stehst, dieses Schwert zu retten oder mein Leben«, sagte sie, »dann entscheide dich für das Schwert.«
Das war so verrückt, dass Arri im ersten Moment fast sicher war, sich verhört zu haben. Aber dann drehte sich ihre Mutter zu ihr um, und was sie in ihren Augen las, fegte jeden Zweifel davon. Sie hatte es ganz genau so gemeint, und es war ihr bitter ernst damit.
»Aber warum?«, murmelte sie hilflos.
»Ich erwarte nicht, dass du es jetzt schon verstehst. Du wirst alles erfahren, bis deine Ausbildung abgeschlossen ist.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nor fordert meine Entscheidung zwar bis zum ersten Schnee, aber er wird sie auch keinen Tag früher bekommen. Uns bleibt also noch etwas Zeit, keine Sorge.«
Zeit wofür?, fragte sich Arri. Etwa, sich in Gedanken schon einmal mit dem Hungertod anzufreunden? Dass ihre Mutter - auch vor ihr -Geheimnisse hatte, das war inzwischen keine neue Erkenntnis mehr für sie. Aber allmählich wurde ihr klar, dass diese Geheimnisse wohl unendlich viel größer waren, als sie bisher auch nur angenommen hatte.
»Und. was geschieht, wenn der erste Schnee früher fällt als gewöhnlich?«, fragte sie stockend. »Wirst du ihm dann das Schwert geben - und mich. mich irgendeinem dummen Kerl als Zugabe?«
»Nein, ich denke ja gar nicht daran.« Lea zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich weiß mich meiner Haut zu wehren, aber Nors Streitmacht wäre auch ich nicht gewachsen. Zumindest nicht mit der Waffe in der Hand.« Plötzlich erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie blinzelte Arri verschwörerisch zu. »Mach dir keine Sorgen. So lange er nicht weiß, wo unser Geheimnis wirklich verborgen ist, kann er uns nichts anhaben. Ich bin sicher, ich kann ihn noch länger hinhalten als bis zum Wintereinbruch, wenn es sein muss.«
Jetzt hatte sie zum allerersten Mal unser Geheimnis gesagt, dachte Arri, und der kleine Unterschied gab ihr den Mut, eine Frage zu stellen, die ihr sonst niemals über die Lippen gekommen wäre. »Und wo ist es verborgen?«
Ihre Mutter schüttelte lachend den Kopf. »So lange du nicht weißt, wo es ist, kann er es auch nicht aus dir herauspressen.« Sie schnitt Arri mit einer knappen Handbewegung das Wort ab, als diese eine weitere Frage stellen wollte. »Genug jetzt. Für einen Tag hast du schon fast zu viel erfahren. Mit neuem Wissen ist es wie mit Essen, weißt du? Allzu viel auf einmal davon, und dir wird schlecht.«
Dieser Meinung war Arri ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil fand sie, dass es sich genau umgekehrt verhielt. Ihr Hunger schien mit jedem Bissen, den ihre Mutter ihr hinwarf, noch zuzunehmen. »Ich habe Nors Krieger gestern gesehen«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete Lea. »Ich war dabei.«
Arri schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Nicht hier oben in der Hütte. Später, als ich das Feuer auf der Sommerkochstelle anmachen sollte. Er stand hinter dem Holunder und hat mich beobachtet.«
Leas Gesicht verfinsterte sich. »Hat er etwas gesagt?«
»Nein. Er hat mich nur ganz merkwürdig angestarrt.«
»Mehr möchte ich ihm auch nicht geraten haben«, sagte Lea düster. »Nor hat nicht nur einen, er hat gleich zwei Krieger mitgebracht. Als ich heute Morgen im Dorf war, habe ich sie mit Sarn und ein paar anderen zusammenstehen sehen.«
Arri dachte an die unheimliche Begegnung mit Sarn am Steinkreis, die ihr jetzt, mit etwas Abstand, fast wie ein ferner Traum vorkam. »Vielleicht planen sie das Jagd-Ernte-Fest«, sagte sie leise. »Immerhin ist Sarn der Schamane.«
»Und mindestens genauso närrisch wie Nor«, versetzte ihre Mutter. »Wenn du die beiden zusammen in einen Sack stopfst und mit einem Stock darauf
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