Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
die nach dem Tod ihrer Mutter in ihren Besitz gelangt war.
»Ich brauche die Himmelsscheibe, die seit ewigen Zeiten im Besitz der Deinen war«, knarrte Nor. »Ich muss wissen, wo das Land unserer Stammväter liegt.«
»Unserer Stammväter?«, wiederholte Arri verständnislos.
Nor holte rasselnd Atem und machte dabei ein Geräusch, das vielleicht auch ein Lachen hätte sein können. In Arris Ohren klang es einfach nur grauenvoll.
»Ja, unsere Stammväter«, die Augen Nors sahen wie zwei unterschiedlich große schwarze Kiesel aus, die man ohne viel Feingefühl in mürben Teig gedrückt hatte. Jetzt bohrte sich ihr Blick in den Arris. »In den Zeiten der großen Kälte ist ein Teil unseres Volkes nach Norden gezogen. Dazu gehörst du. Ein anderer Teil zog aber nach Osten«, ein verkrümmter Finger, der als solcher gar nicht richtig zu erkennen war, deutete auf Larkar, »dazu gehört dieser Einfaltspinsel. Der größere Teil aber blieb in der Nähe ihrer Stammväter – und erbaute Goseg.«
Arri starrte ihn wortlos an. Dragosz und sie, Amar und Larkar – sie alle hatten demnach die gleichen Vorfahren?
»Ich sehe, dass du zu verstehen beginnst«, sagte Nor auf seine raue, knarrende Weise. »Wir sind alle miteinander verwandt.«
Arri nickte. Das klang vollkommen verrückt. Aber tief in ihr spürte sie, dass jedes Wort wahr war. Da hatte es von Anfang an eine Verbundenheit mit den Rakern gegeben, die sie sich nie wirklich erklären konnte.
»Unsere Stammväter wurden von einer schrecklichen Krankheit heimgesucht«, sagte Nor. »Und die ist nun wieder ausgebrochen …«, der letzte Teil seines Satzes verlor sich in einem entsetzlich rasselnden Geräusch, und Nor kroch förmlich in seinen Stuhl hinein. Das Korbgeflecht knarrte protestierend, als er sich wand, nun wieder mehr ein Wurm als ein Mensch.
»Ich glaube …«, begann Amar von irgendwo hinter ihm. Aber der Wurm schüttelte den Kopf … und wurde wieder zum Menschen.
»Nein.« Die Stimme klang jetzt anders, zwar immer noch rasselnd, doch gleichzeitig wie das Heulen eines Windstoßes, der durch ein Baumloch fährt, »ich will es ihr selbst erklären.«
Nor richtete sich erneut in seinem Stuhl auf. Seine Krallen umklammerten die Lehnen und das schreckliche Sich-Winden kam zur Ruhe. »Unsere Stammväter haben ein Heilmittel gegen die Krankheit gefunden, die mich verstümmelte. Sie haben es dem Grab eines ihrer Stammesfürsten beigelegt.«
Arri starrte ihn verständnislos an. »Aber was hat das mit der Himmelsscheibe zu tun?«
»Die Himmelsscheibe zeigt eine bestimmte Sternenkonstellation«, presste Nor mühsam hervor. »Und die ist … so … nur von der Heimat unserer Stammväter aus erkennbar.«
Jetzt verstand Arri. »Du willst dir das Heilmittel aus dem Grab holen«, sagte sie aufgeregt. »Und du brauchst die Himmelsscheibe, um den Ort zu finden, wo man unseren gemeinsamen Vorfahren beigesetzt hat.«
Nor nickte fast unmerklich. »Die Himmelsscheibe – und die Hoffnung, dass sie mich wirklich dahin führt, wo ich ein Mittel finden werde, um mein Leben zu retten …« Seine Stimme erstarb fast. »Aber nicht nur mein Leben, mein Kind. Sondern auch das vieler anderer.«
Die tiefschwarzen Augen schlossen sich ohne Vorwarnung, und dann gab Nor ein schnarchendes Geräusch von sich.
Arri rührte sich nicht von der Stelle. Die Angst vor dem uralten, kranken Mann war so gründlich erloschen, als hätte sie niemals existiert. An ihrer Stelle verspürte sie plötzlich eine mindestens ebenso große, schmerzende Leere.
»Und was erwartest du jetzt von mir?«, flüsterte sie.
»Das ist doch wohl offensichtlich«, sagte Amar hinter ihr. »Wir brauchen die Himmelsscheibe. Und das so schnell wie möglich.«
Arri drehte sich zu dem Hohepriester um. »Und wenn ich nun gar nicht weiß, wo sie ist?«
Amar starrte sie böse an. »Und wenn ich dir das nun nicht glaube?«
»Es ist aber wahr«, sagte Arri. »Frag Nor. Meine Mutter besaß die Himmelsscheibe nicht – wie sollte ich sie da haben?«
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie beide zusammenzucken, und Arri wandte sich wieder zu dem uralten Mann um, der sich so grässlich verwandelt hatte.
Wie ein nasser Sack hing Nor in seinem Stuhl. Aber seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geöffnet. »Sie spricht die Wahrheit.«
»Aber ich dachte …«, sagte Amar verwirrt.
»Dass wir sie durch Arri finden könnten?« Nor nickte kaum merklich. »Das wird auch geschehen. Wenn sie sich auf sich selbst verlässt – und wenn
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