Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Trick mit den Wünschelruten versucht, sie hatte die Raker zu einem verborgenen unterirdischen Lauf führen können, der ihnen, mit reinem Quellwasser gespeist, für Wochen das Überleben gesichert hatte.
Wäre ihr das nicht gelungen, der Rat der Ältesten hätte sie wahrscheinlich niemals zur Heilerin geweiht. Wie sie sie jetzt wohl nannten? Ihre Verderberin?
»Du musst nicht auf das hören, was andere über dich sagen«, hätte ihre Mutter ihr jetzt zugeraunt. »Hör nur auf das, was in dir ist.«
Das wäre auch so ein Rat gewesen, den sie mit der ungeduldigen Handbewegung eines leichtfertigen Kindes beiseite gewischt hätte. Ganz anders als jetzt. Was sie jetzt nämlich spürte, war weniger ein Ziehen, das sich von den Wünschelruten ausgehend über Hände und Arme auf ihren Oberkörper ausbreitete, sondern es befand sich von Anfang in ihrem Körper und füllte ihn fast vollständig aus.
»Einer Wünschelrute wohnt kein Zauber inne«, hätte ihre Mutter jetzt gesagt, »der Zauber wohnt in dir selbst.«
»Ja, Mutter«, flüsterte sie. »Der Zauber wohnt in mir selbst.«
Merkwürdigerweise wanderten ihre Gedanken dabei zu Nor. Das erste Mal war sie ihm nicht in Goseg begegnet, sondern in der Hütte ihrer Mutter. Er war ihr schon damals uralt vorgekommen, und sie hatte nicht begriffen, warum ein so greiser und wichtiger Mann wie der Hohepriester von Goseg den weiten Weg in das Fischerdorf unternommen hatte, nur um mit ihrer Mutter zu sprechen.
Mittlerweile aber begriff sie es. Nor schien von einem Ehrgeiz getrieben, der ihrer Mutter fremd gewesen war. Sonst aber waren sich die beiden in vielen Punkten ähnlicher, als sie es damals auch nur ansatzweise begriffen hatte. Auf jeden Fall verstanden sie weit mehr von den Geheimnissen der Natur und den Menschen als die meisten anderen, Abdurezak vielleicht ausgenommen. Damals hatte Nor einen Anlass gesucht, um sich mit Lea auszutauschen, und er hatte das fordernd und unter dem Deckmantel des machthungrigen Hohepriesters getan.
Vielleicht hatte er aber vor allem von ihrer Mutter lernen wollen, von dem, was dieser Teil ihres gemeinsamen Volkes für Wunder geschaffen hatte. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum Nor ihr geraten hatte, auf ihre Mutter zu hören.
Als sie ihm zusammen mit ihrer Mutter vor einer halben Ewigkeit begegnet war, da hatte sie vor diesem uralten Hohepriester Angst gehabt. Vielleicht hatte sie sich auch ein bisschen vor ihm geekelt, vor diesem haarlosen, hässlichen Mann. Vor allem aber hatte sie die Aura der Macht gespürt, die ihn wie einen Mantel umgab. Und nun begriff sie, dass da noch weit mehr war – nicht nur das unbarmherzige Machtstreben, sondern etwas Tieferes.
Nor hatte gar nicht geleugnet, dass er mit dem Heilmittel ihrer gemeinsamen Vorfahren sein eigenes Leben retten wollte. Aber dahinter hatte sie noch mehr gespürt: den tiefen Wunsch zu verhindern, dass eine verheerende Katastrophe ihren Lauf nahm, die Menschen entstellte und schließlich tötete.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte ja schon geglaubt, sie hätte sich in den letzten Nächten leergeweint, und dass statt der Trauer eine Kälte Einzug in ihr Herz gehalten hatte. Aber das stimmte doch nicht. Sie hatte sogar noch gar nicht richtig begonnen, um Dragosz zu trauern: Sie hatte ja noch nicht einmal wirklich begriffen, dass er nun tot war und sie niemals wieder in die Arme schließen würde.
Und als ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, so bekam sie auch das schreckliche letzte Bild von Isana nicht aus dem Kopf, als sie leblos und zerschmettert neben ihr am Strand gelegen hatte. Wenn die Götter ihr Unglück vollkommen machen wollten, dann hatten sie es fast erreicht, indem sie ihr auch die einzige Freundin nahmen, die sie je gehabt hatte.
»Aber dich, Kyrill«, flüsterte sie voller Verzweiflung, »dich werde ich wieder in die Arme schließen. Ich werde dich beschützen und dir alles beibringen, was mir meine Mutter schon beigebracht hat.«
Sie verlor den Gedanken aber sofort, als das Hundegebell hinter ihr plötzlich anders klang, von einem merkwürdigen Echo verfremdet nämlich heller und leiser zu ihr herüberwehte. Sie konnte das gar nicht begreifen. Es klang fast so, als sei ihre Verfolgermeute drauf und dran, in eines der kleinen Nebentäler abzubiegen, statt den Pfad auf den Gipfel weiterzuverfolgen. Wie konnte das sein?
Sie drehte sich um und starrte zurück. Noch war der Tag dem Drängen der zehrenden Dunkelheit nicht gewichen,
Weitere Kostenlose Bücher