Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
aber die dichte, aus mehreren Schichten bestehende Wolkendecke ließ nur vereinzelt Lichtstrahlen der untergehenden Sonne durch, die wie suchende Lichtfinger über die karge Hügellandschaft glitten. Arri konnte sich nicht daran erinnern, zuvor schon einmal ein solch verwirrendes Lichtspiel gesehen zu haben. Der gras- und moosbewachsene Boden, die Sträucher, die wenigen Bäume mit ihrem kargen Blätterwerk, und dann die tiefer gelegenen Wiesen, all das lag im tiefen Schatten des zugezogenen Himmels. Nur dort, wo vereinzelt das Licht durch die Wolkendecke brach, war alles so hell erleuchtet und so klar zu erkennen, dass es fast schon etwas Übernatürliches zu haben schien.
»Mutter?«, fragte sie leise. »Was willst du mir zeigen?«
Zwei, drei Lichtstrahlen flackerten auf und verschwanden dann wieder. Arri kniff die Augen zusammen, als sich das gleiche Schauspiel noch einmal wiederholte. Sie versuchte ihre Verfolger auszumachen, irgendeine Spur von ihnen zu entdecken. Eine beständig lauter werdende Stimme in ihrem Hinterkopf wisperte ihr dabei zu, dass sie sich vorsätzlich in Gefahr brachte, wenn sie hier so deutlich sichtbar stehen blieb: Denn wenn sie von hier oben aus die Hügellandschaft unter sich so gut im Blick hatte, wenn sie von hier aus gelegentlich sogar ein Stück der vom Wind gekräuselten Wasseroberfläche des weit entfernten Sees wie von Geisterhand beleuchtet aufblitzen sah, dann konnte man doch genauso gut von unten aus auch sie sehen.
Die Stimme hatte zwar recht, aber ihre Warnung war trotzdem überflüssig. Es war keine Menschenseele zu sehen. Was sie hörte – oder besser gesagt: was sie nicht hörte – verwirrte sie umso mehr. Die Kommandorufe waren ganz verstummt, und auch das Hundegebell wurde immer leiser. Das schien ihr mehr als merkwürdig. Fährtensucher mochten sich irren, Hunde aber niemals.
Nein. Entschieden schüttelte sie den Kopf, und nasse Haarsträhnen strichen ihr wie liebkosende Finger über die Stirn. Da musste sie erneut an ihre Mutter denken, aber diesmal an die beruhigende Geste, mit der sie ihr so oft über den Kopf gestrichen hatte. »Ich habe dafür gesorgt, dass die zotteligen Dorfköter eine alte Spur von dir aufgenommen haben«, hätte Lea dabei vielleicht gesagt und leise gelacht.
Und Arri hätte nicht gewusst, ob ihre Mutter das ernst meinte, oder ob es nur einer ihrer unmöglichen Scherze war, mit denen sie sie so oft zur Weißglut gereizt hatte. Damals hatte sie diese Art einfach nur gehasst, mittlerweile vermisste sie sie aber.
»Mutter«, flüsterte sie fast anklagend und starrte nun nach oben, zu der dichten Wolkendecke empor, dem Schutzwall der Regengöttin vor dem fordernden Sonnengott, wie die Raker glaubten. Sie hielt das für Unsinn. Dort, weit über den Wolken, waren die Sterne, die denjenigen zu leiten verstanden, der ihre Geheimnisse kannte. Und irgendwo dort oben gab es auch Lea, die über sie wachte, da war sie sich ganz sicher.
Der Gedanke hätte ihr eigentlich Trost spenden sollen. Aber das Gegenteil war der Fall. Plötzlich begriff sie nämlich, wie allein sie war.
Lea war tot. Dragosz war tot. Und ihren Sohn würde sie nie wieder in die Arme schließen dürfen, wenn es nach Kaarg und den anderen ging.
»Verdammt!«, schrie sie nach oben hinauf. »Ich lasse das aber nicht zu! Ich werde mein Schwert holen, und ich werde meinen Sohn befreien! Und ich werde auf niemanden Rücksicht nehmen, der mich daran hindern will!«
Jäh wandte sie sich ab und machte sich an den Abstieg. Ihr Herz schlug hart und heftig, und die Seite, die sie sich beim Aufprall aufs Ufer geprellt hatte, schmerzte bei jeder kleinsten Anstrengung. Ihre Entschlossenheit geriet dadurch aber nicht ins Wanken, ganz im Gegensatz zu ihrem Körper, der ihr nicht gehorchen wollte und somit die eigentlich nicht besonders schwierige Kletterpartie zu einem unkalkulierbaren Risiko werden ließ. Obwohl sie sich auf eine lächerliche Weise dafür schämte, konnte sie doch nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus dem Augenwinkel lief.
Dragosz hatte ihr Stärke gegeben – ohne ihn war alles so viel schwerer. Der ersten folgte eine zweite Träne, dann musste sie blinzeln und stehenbleiben, um sich die vielen Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen.
Es würde nie wieder jemand da sein, der ihr Schutz gab: Jetzt aber musste sie selbst für Kyrill da sein und ihm Schutz bieten. Sie wusste nicht, ob sie das schaffen würde. Sie fühlte sich so schwach und erbärmlich, kaum in der Lage,
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