Die Hintertreppe zum Quantensprung
im Fernsehen übertragen wurde. Er besorgte sich eine kleine Klammer sowie ein paar Zangen und bestellte eine Karaffe Wasser mit Eiswürfeln nebst Gläsern. Vor ihm lag ein Stück von einem O-Ring, das dem Ausschuss für Prüfzwecke zur Verfügung gestellt worden war. Während nun einige Zeugen ihre Aussagen machten, knipste Feynman mit der Zange eine Ecke des O-Rings ab, bog sie um, fixierte diesen Zustand mit einer Klammer und tauchte beides in das eiskalte Wasser. Er ließ das Gummi eine Weile darin baden, um sich dann zu Wort zu melden: »Ich habe ein Stück Gummi des O-Rings genommen und eine Zeit lang in Eiswasser gelegt. Wenn man nun die Klammer entfernt, schnellt das Gummi nicht mehr zurück. Mit anderen Worten, bei einer Temperatur von null Grad verliert der O-Ring seine Elastizität. Und das ist, so scheint mir, für unser Problem von Belang.« Damit war die grundlegende physikalische Ursache der Challenger-Katastrophe gefunden, wie wir inzwischen sagen können. Aber es sollten noch Monate vergehen, bevor alle organisatorischen, politischen und andere Mängel erkannt und korrigiert werden konnten. Als alles vorbei war – auch die Feier im Rosengarten des Präsidenten – flog Feynman zurück nach Kalifornien, wo er dann bald darauf starb. Sein persönlicher Bericht an den Präsidenten schließt mit den Worten: »Eine erfolgreiche Technik setzt voraus, dass der Realitätssinn Vorrang vor der Öffentlichkeitsarbeit hat, denn die Natur lässt sich nicht betrügen.« Oder in seiner eigenen Sprache, die so knapp und prägnant sein kann: »For a successful technology, reality must take precedence over public relations, for Nature cannot be fooled.« Feynman hat in diesem Satz »Natur« großgeschrieben – noch eine gute Idee von ihm.
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John S. Bell (1928–1990)
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Die Präzision einer Ungleichung
Am Ende seines Lebens hatte John Bell Pech. Kurz nachdem der aus dem irischen Belfast – und aus ärmlichen Verhältnissen – stammende Physiker für den Nobelpreis seiner Fachs nominiert worden war, starb er in seiner Heimatstadt an den Folgen einer Gehirnblutung. Seine große Zeit als Wissenschaftler konnte Bell an dem als CERN bekannten Zentrum für Kernphysik mit seinen riesigen Teilchenbeschleunigern in Genf erleben. Dort hielt er sich in den 1950er- und 1960er-Jahren auf, um über Reaktionen und Umwandlungen von Elementarteilchen zu grübeln, wie sie mithilfe von Quantensprüngen zu verstehen waren. In der Schweiz verlor Bell nach und nach sein Interesse an den Maschinen und ihren Möglichkeiten, und er dachte mehr und mehr über die Grundlagen der angewandten Physik nach. Dazu hatten ihn vor allem die Deutungen inspiriert, die David Bohm den Quantensprüngen gegeben hatte. Sie handelten von »verborgenen Parametern«, die es noch aufzuspüren galt und mit deren Hilfe »das präzise Verhalten eines individuellen Systems« bestimmt werden konnte, wie Bohm in seinem 1951 erschienenen Lehrbuch Quantentheorie betont hatte. Bell ärgerte, dass seine Kollegen Bohms Ideen lässig ablehnend gegenüberstanden – wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nahmen. So beantragte er 1964 ein Sabbatjahr, um für sich selbst zu klären, was die Existenz von Quanten für die Natur der Wirklichkeit, des Wirklichen, des Realen oder der Realität bedeutet. Können wir auf verborgene Elemente des Wirklichen hoffen oder zeigt sich hier eine andere Qualität der von uns Menschen erkundeten Welt? (Übrigens, das akademische Sabbatjahr hat seinen Namen aus der Bibel bekommen. Es bezeichnet hier eine Ruheperiode für das Ackerland, das nicht unentwegt produktiv sein kann und vielmehr nach sechs Jahren der Bebauung einmal brach liegen und sich erholen soll.)
Sabbatjahre sind guter akademischer Brauch, also nutze ihn Bell, um sich genauer mit Bohms Frage zu befassen, die zuerst Albert Einstein aufgeworfen hatte. Der große alte Mann der Physik wollte ehedem wissen, ob die gegebene Form der Quantenphysik vollständig sei oder ob es noch irgendwo – in der Wirklichkeit oder hinter ihr – verborgene Größen ( hidden parameters ) geben könne, die das vielfach zufällig bleibende oder zumindest unvorhersehbar erscheinende Quantengeschehen dann doch festlegen (determinieren) würden. Aus den frühen 1930er-Jahren gab es aber einen Beweis des großen ungarischen Barons und Mathematikers John von Neumann, der das Vorhandensein von noch unbekannten oder unzugänglichen Bestimmungsstücken als Teil der Quantenmechanik ausschloss. Dieser
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