Die Hintertreppe zum Quantensprung
Bohr hatte den ganzen Sommer über intensiv an dem Manuskript sei ner Rede gearbeitet, immer wieder neue Fassungen diktiert und die alten verworfen. Dies war bei Bohr ein quälend langsamer Prozess, der vermutlich mehr Schaden als Nutzen bewirkte. Bohr drehte und wendete seine Formulierungen so lange, bis er sicher war, dass sie nicht zu widerlegen waren. Deshalb verunglückte auch der erste Satz, mit dem sein neuer Begriff »Komplementarität« vorgestellt wurde. Das entscheidende Wort erscheint unvermittelt, es ist versteckt und kaum zu erkennen. Komplementarität wird weder defi niert noch als wichtig hervor gehoben: »Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kenn zeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschlie ßen de Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzu fassen, die die Idealisation der Beobachtungs- bzw. Defi ni tionsmög lich keiten symbolisieren.«
Max Delbrück, einer der späteren Mitarbeiter von Niels Bohr, wurde einmal beim Lesen eines Bohr-Manuskriptes voller Schachtelsätze so gereizt, dass er ihm »ein Verbrechen am Lesepublikum« vorwarf; was Bohr da treibe, sei sinn los. Niemand könne jemals aus den Texten herausholen, was er alles hineingesteckt habe. Dem kann man nur zustimmen und trotzdem versuchen, einfacher zu sagen, was Bohr mit dem zitierten Satz ausdrücken wollte: Was in einem Experiment ge schieht, wird von uns hergestellt und registriert. Es muss davon also eine Raum-Zeit-Beschreibung geben. Zu einem Experi ment gehört auch die gewohnte Kausalität; denn wie sollten wir sonst aus dem Messergebnis auf den Zustand des untersuchten Objekts schließen? Im Rahmen der klassischen Physik sind beide Be dingungen miteinander vereinbar, in der Quantentheo rie hin gegen sind Kausalität und Raum-Zeit-Beschreibung komple men tär zueinander. Dies zeigen die Erfahrungen, die mit den Expe ri men ten an atomaren Bausteinen unternommen wor den sind.
Übrigens – Komplementarität hängt direkt mit dem Problem der Spra che zusammen. Dies wurde Bohr klar, als er Ende 1927 aus Como zurückgekehrt war und auf einer Segeltour alten Schul- und Studienfreunden von der neuen Idee erzählte. »Das ist ja alles schön und gut, Bohr«, sollen sie ihm geantwortet haben, »aber du kannst doch nicht bestreiten, dass du das alles vor zwanzig Jahren auch schon gesagt hast.« Mit anderen Worten: Bohrs Denkfi gur »Komplementarität« war älter als das physikalische Modell, auf das er sie anwenden wollte. Komplementarität ist offenbar eine ganz allgemeine Er fahrung, die man beim Denken machen kann, wenn man es ernst meint.
Der Geist von Kopenhagen
Es ist immer einfach, ein Ganzes in Teilen darzustellen. Auch in Bohrs wissenschaftlichem Leben kann man Perioden entdecken und sich jeder einzelnen zuwenden. Mit dem Vortrag über die Komplementarität kam die zweite von vier Phasen zu ihrem Abschluss. Die erste Periode hatte 1912 bei Rutherford in Manchester begonnen und zehn Jahre später am Blegdamsvej geendet. In dieser Zeit war es gelungen, die Stabilität der Ele mente und ihre Anordnung in einem Periodensystem in den theoretisch-physikalischen Griff zu bekommen. Der Triumph dieser Phase bestand darin, dass man die Besonderheit einer chemi schen Substanz, ihre Qualität, auf die Zahl der Elektronen in einem Atom reduzieren konnte, auf eine Quantität also. Das Verständnis des Erfolges gelang in der zweiten Periode. In ihr entstand die Quantenmechanik, und eine Deutung dieser Theorie wurde erarbeitet. In der dritten Phase – sie reichte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – standen (philosophisch) die Lehren dieser Interpretation und (physikalisch) die Struktur des Atomkerns im Mittelpunkt. In der abschließenden vierten Phase wurde Bohr zum geistigen und moralischen Oberhaupt der Physiker.
Während die erste Periode durch monumentale Publikationen Bohrs bestimmt wurde, konzentrierte Bohr sich in der zweiten Phase auf die Anregung einer internationalen Zusammenarbeit. Bohr ermöglichte in seinem Institut den Geist von Kopenhagen. Seine Mitarbeiter gingen ungewöhnlich offen und locker miteinander um. Bohr überwand bewusst die Trennung von privatem und wissenschaftlichem Leben. Er hielt seine Wohnung für alle Mitarbeiter offen, und man disku tierte bis spät in die Nacht, versorgt mit belegten Broten aus Margaretes Küche. Man gehörte
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