Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
Gedanken verloren sich. »Tragisch. Tragisch groß«, murmelte er. »Ein Eisvogel, der sterben muss, wenn er vom Boden abhebt. Das ist groß.« Er griff erneut zum Stift.
»Sind Sie Künstler?«
»Bildhauer«, antwortete er, ohne aufzuschauen.
»Wollen Sie auch einen Altar bauen?«
Er hielt die Luft an und legte den Stift wieder aus der Hand. »Nein«, sagte er nachdrücklich. »Ich arbeite an einem Zyklus mit dem Titel › Zeit der Gewalt - Gewalt der Zeit ‹ . Und da spielt der Pergamon-Altar eine zentrale Rolle. Sonst noch Fragen? Ansonsten wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt weiterarbeiten ließen.«
Sie nickte und schaute ihm eine Zeit lang stumm zu. »Waren Sie schon mal nachts hier drinnen?«
Er sagte nichts.
Sie lächelte. »Solange Sie den Altar nicht nachts erlebt haben, werden Sie ihn nie begreifen.«
»Würden Sie mich einen Augenblick allein lassen, bitte!«
Obgleich Frieda Damaschke wusste, dass es gegen alle Polizeivorschriften verstieß, gab sie nach. Tränenfeuchten Augen konnte sie einfach keine Bitte ausschlagen.
»Aber fassen Sie nichts an. Ich bin in der Küche«, sagte sie und zog die Tür von Kurt Hombergs Wohnzimmer hinter sich zu.
Kyra begann sich umzusehen. Irgendjemand hatte die Spuren notdürftig beseitigt, dennoch war deutlich zu erkennen,
wo das Blut überall hingespritzt war. Weit. Weit war es gespritzt. Auch Reste des grauen Pulvers, mit dem die Spurensicherung sämtliche fingerabdruckfähigen Flächen in dem Zimmer eingestaubt hatte, waren noch zu sehen. Ob Frieda Damaschke hier geputzt hatte? Wohl kaum. Sicher gab es für so etwas spezielle Tatortputzen.
In der Nähe der Tür hatte sich eine große Lache ins Parkett gesogen. Kyra ging in die Knie und strich über den matten Fleck. Hier musste der alte Mann liegen geblieben sein. Ob er sich heftig gewehrt hatte? Ob er laut geschrien hatte? Wie schrie ein Mann, wenn er ahnte, dass er geköpft werden sollte? Hatte er es geahnt? Kyra schloss die Augen. Die Gabe der netten blonden Fernseh-Profilerin, am Tatort Verbrechensvisionen zu haben, schien sie nicht zu besitzen. Schade. Sie hätte es gerecht gefunden, wenn sie sich im Gegenzug zu ihren Absencen an Dinge erinnern könnte, die sie nicht erlebt hatte. Aber wann war das Leben schon gerecht?
Sie riss sich von dem Blutschatten am Boden los und fing an, das Zimmer nach Fotos abzusuchen. Ein gerahmtes Bild hing über dem altmodischen Fernseher. Es zeigte eine Frau mit grauen Löckchen und rosigem Gesicht. Wahrscheinlich die verstorbene Frau Homberg. Auf einer Kommode standen weitere Fotos. Sohn. Sohn. Enkelkinder. Schwiegertochter. Alte, braunstichige Fotos von Menschen, die gewiss schon lange tot waren. Endlich entdeckte Kyra ein Bild, von dem ein nicht mehr ganz frisches Ehepaar herablächelte. Der Mann musste Kurt Homberg sein. Der Restauranteinrichtung nach zu urteilen, war dieses Foto in den späten Siebzigern aufgenommen worden. Aber besser als gar nichts. Kyra zog es aus dem Rahmen und steckte es in ihre Handtasche.
Auch die Bibliothek war nicht besonders aktuell. Sie schien hauptsächlich Bücher aus den Fünfzigern und Sechzigern zu enthalten. Leinen- und Papprücken mit vergilbten,
eingerissenen und sorgfältig geklebten Schutzumschlägen. Selbstverständlich hatte jedes Buch eine Signatur.
Die Bücher standen dermaßen in Reih und Glied, dass es Kyra gruselte. Es war ihr nie gelungen, in ihren eigenen Bücherregalen irgendeine Sorte von Ordnung herzustellen, sei es inhaltlicher, sei es optischer Natur. Wohingegen dieser Mann seine Bücher zentimetergenau nach verfügbarem Regalplatz gekauft zu haben schien. Nirgends war auch nur die geringste Lücke zu sehen, die Bücher kippen ließ und damit den Anfang der Unordnung schuf.
Kyra ging einige Schritte von der Bücherwand zurück. Und wieder näher heran. Im obersten Regal links hatte sie doch eine Lücke entdeckt. Lücken ohne Leihschein konnten in dieser Musterbibliothek nicht sein.
Sie ging zu den Karteikästen neben dem Sofa. Alphabetische Ordnung. Aber kein Fach für Leihscheine. Ratlos schaute sie sich im Zimmer um. Nirgends lag etwas, das entfernt nach einem Buch ausgesehen hätte. Anscheinend hatten die Bullen das Zimmer gründlich durchkämmt. Aber andererseits: Warum sollten Bullen ein Buch mitnehmen?
Kyra schob die Leiter zu der Stelle, wo sie die Lücke im Regal entdeckt hatte, und kletterte hinauf. Links neben der Lücke stand Euripides, rechts daneben die Odyssee, dann kam Herodot.
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