Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
Götter entmannt, Beine und Arme amputiert, Gesichter ausgelöscht. An vielen Stellen waren es nur noch vereinzelte Gliedmaßen, die durch den Raum flohen.
Gustav Eisenrath schlug sein Skizzenbuch auf. Er musste sich beeilen. Das Museum würde in einer Stunde schließen.
Viele Wangen wuchsen ohne Nacken auf, und nackte
Arme, der Schultern beraubt, irrten hin und her, und einsame Augen, der Stirne bar, trieben sich herum.
Dieser Satz des griechischen Philosophen Empedokles, mit dem dieser vor über zweieinhalbtausend Jahren die Entstehung menschlichen Lebens beschrieben hatte, stand als Motto über seiner Arbeit. Entstehung - Vernichtung, es waren zwei Begriffe, die für den Künstler das Gleiche bedeuteten. Mit jedem Kohlestrich, den er auf das Blatt setzte, vernichtete er tausend andere Möglichkeiten, mit jeder Vernichtung öffnete er neuen Raum.
Eine späte Schulklasse zog lärmend in den Saal, von Lehrern und Museumsaufsicht nur unzureichend gebändigt.
Gustav Eisenrath blickte ärgerlich von seinem Buch auf. Er verstand diese jungen Menschen nicht und ihre Ignoranz, die sie allesamt, als hätten sie es im Unterricht gelernt, »Mann, ey, schon wieder Steine!« rufen ließ. Kein Horrorfilm konnte die Gewalt zeigen, die in diesem Skulpturenfries eingefangen war.
Jeden Quadratzentimeter hatte er in den letzten Monaten ausführlich studiert. Und dennoch fehlte ihm der letzte Schlüssel, der diesen Stein ganz öffnen und seine Arbeit freisetzen würde.
Sein Kohlestift huschte immer schneller über das Papier. Er begann, die lärmende Schulklasse zu vergessen. War es eine Laune des Zerfalls oder eine List der Geschichte, dass unter den mordenden Göttern vor allem die Göttinnen überlebt hatten? Während Herakles, Ares und sogar Göttervater Zeus der Zeit zum Opfer gefallen waren, schwangen Hekate, Leto, Artemis und allen voran Athene noch immer Fackel und Schild. Selbst das Gorgoneion, der abgeschlagene Kopf der Medusa, den Athene als Wehrschmuck auf ihrer Brust trug, blickte den Betrachter an, als hätte es ein allerletztes Mal die Macht zurückgewonnen, diesen zu versteinern.
Gustav Eisenrath schlug eine leere Seite auf. Er musste die Athenegruppe zeichnen. Athene begreifen. Ein gewaltiges Dreieck aus Verzweiflung, Schmerz und Triumph wuchs auf dem Blatt. Blinde Augen flehten um Gnade, doch die Göttin
kannte nur Sieg. Zwei Schwingenpaare rauschten rechts und links über das Papier, Nike, die Siegesgöttin, schwebte heran, um die große Schwester zu kränzen, während sich der Blick des geflügelten Giganten im Unendlichen brach. Seine Schwingen beschirmten seinen Schmerz, trugen ihn empor.
»Ich würde dem Alkyoneus keine Flügel malen.«
Gustav Eisenrath fuhr herum. Eine junge Aufsicht, die er hier im Pergamon-Museum noch nie gesehen hatte, stand auf der Stufe hinter ihm und blickte auf seine Skizze herab.
»Ich würde dem Alkyoneus keine Flügel malen«, wiederholte sie ruhig.
»So? Und warum nicht?« Er hasste es, beim Arbeiten gestört zu werden.
»Weil er nicht fliegen darf. Wenn er vom Boden abhebt, stirbt er.«
»Ach. Tatsächlich.«
Sie nickte heftig.
»Und warum hat der Bildhauer ihm dann Flügel gegeben?«, fragte er gereizt. Er war kurz davor gewesen, die Skulpturengruppe zu begreifen, und die Flügel waren der Schlüssel, das spürte er deutlich.
Die Aufsicht kicherte. »Griechisch hat er ja wohl gekonnt. Wenn er auch sonst nicht viel Ahnung gehabt hat.«
»Ach. Und Sie haben Ahnung?« Nun legte Gustav Eisenrath den Stift doch aus der Hand und drehte sich um. Er musterte die junge Frau finster.
»Na, was meinen Sie denn, warum Athene den Alkyoneus an den Haaren packt«, fragte sie ungerührt.
Er schaute kurz zu der Gruppe, die an der gegenüberliegenden Stirnwand aufgehängt war. »Es ist bildnerisch die eindrucksvollste Lösung, die gegenläufige Linie, die -«
»Unsinn«, unterbrach sie ihn. »Athene weiß genau, dass Alkyoneus nur verwundbar ist, wenn er die Berührung zur Erde verliert. Deshalb reißt sie ihn in die Höhe. Und deshalb streckt er der Erde das Bein entgegen.«
Gustav Eisenrath fasste sich nachdenklich an den Bart. »Aber wenn das so ist, warum hat ihm der Bildhauer dann Flügel gegeben?«
»Ich sagte doch: Griechisch hat er ja wohl gekonnt.«
Der Künstler blickte die junge Frau verwundert an.
»ALKYKON bedeutet Eisvogel.« Sie kicherte wieder. »Ziemlich doof von Mutter Erde, ihren Sohn Eisvogel zu nennen, wenn er gar nicht fliegen darf. Was?«
Seine
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