Die historischen Romane
dieses Berges hinauf. Als der Wald immer dichter wird, bindet er sein Pferd an einen Baum und geht zu Fuß weiter. Doch plötzlich wird er von drei Maskierten gepackt, die ihm die Augen verbinden und ihn durch den Wald führen, bis sie auf eine Lichtung mit einer Burgruine kommen, wo ihn dreihundert Phantomgestalten in langen Mänteln mit Schwertern bewaffnet erwarten, die sofort beginnen, ihn einem scharfen Verhör zu unterziehen.
»Was willst du hier?« – »Das Licht sehen.« – »Bist du bereit zu schwören?…« Und so weiter bis zu einer Reihe von Prüfungen wie das Blut eines eben getöteten Verräters trinken, sich mit einer Pistole in den Kopf schießen, um die Gehorsamsbereitschaft zu prüfen, und andere Mätzchen dieser Art, die an Freimaurerrituale der niederen Ordnung erinnern, wie sie auch vielen Dumas-Lesern gut bekannt waren, so dass der Reisende beschließt, dem Mummenschanz ein Ende zu machen, und sich hochmütig an die Versammelten wendet, um klarzustellen, dass ihm diese Riten und Tricks allesamt bekannt sind und sie aufhören sollen, mit ihm Theater zu spielen. Denn er sei etwas Höheres als sie alle, nämlich der von Gott gesandte Großkophta, der Oberste des weltweiten Freimaurertums.
Alsdann ruft er, um sie unter sein Kommando zu stellen, die Häupter der Logen von Stockholm, London, New York, Zürich, Madrid, Warschau und mehrerer asiatischer Länder auf, die offenbar alle dort auf dem Donnersberg zusammengekommen sind.
Warum haben sich die Freimaurer aus aller Welt dort versammelt? Der Unbekannte erklärt es nun: Er verlangt von ihnen den Einsatz mit eiserner Hand und feurigem Schwert und diamantharten Bilanzen, um das Unreine vom Antlitz der Erde zu tilgen, sprich: die beiden großen Feinde der Menschheit niederzuringen und zu vernichten, die da heißen Thron und Altar (Großvater hatte mir auch gesagt, dass der infame Voltaire das Motto Écrasez l’infame! hatte). Sodann enthüllt der Unbekannte, dass er (wie alle guten Nekromanten jener Epoche) seit unzähligen Generationen gelebt habe, schon vor Moses und vielleicht vor Assurbanipal, und nun aus dem Orient gekommen sei, um zu verkünden, dass die Zeit sich erfüllt habe. Die Völker bildeten eine riesige Heerschar, die unermüdlich dem Licht entgegenmarschiere, und Frankreich sei die Avantgarde dieser Heerschar. Man solle ihm die Fackel dieses Marsches in die Hand drücken, auf dass sie ein heilbringendes Feuer in der Welt entzünde. In Frankreich regiere zur Zeit noch ein alter korrupter König, dem nur noch wenige Jahre zu leben blieben. Obwohl einer der Versammelten – wie sich herausstellt, ist es Lavater, der berühmte Physiognomiker aus Zürich – zu bedenken gibt, dass die Gesichter des jungen Thronfolgerpaares (also des künftigen Ludwig XVI. und seiner Gemahlin Marie-Antoinette) Güte und Sanftmut ausstrahlen, betont der Unbekannte (in dem die Leser vermutlich längst jenen Joseph Balsamo alias Cagliostro erkannt haben, dessen Namen Dumas aber bisher noch nicht genannt hat), dass man kein Mitleid mit einzelnen Menschen haben dürfe, wenn es darum gehe, die Fackel des Fortschritts voranzutragen. In zwanzig Jahren werde die französische Monarchie vom Erdboden verschwunden sein.
Nun treten die Repräsentanten der Logen jedes Landes der Reihe nach vor und bieten an, entweder Menschen oder Gelder bereitzustellen als ihren Beitrag zum Sieg der republikanischen und freimaurerischen Sache unter der Parole Lilia pedibus destrue , »Zertritt die französische Lilie«.
Ich hatte mich nicht gefragt, ob ein Komplott von fünf Kontinenten nicht ein bisschen zuviel war, um die Regierungsform Frankreichs zu ändern. Letztlich war ein Piemontese jener Zeit überzeugt, dass es draußen in der Welt nur Frankreich gab, sicher auch Österreich, vielleicht noch ganz weit in der Ferne Cochinchina, aber dass kein anderes Land der Beachtung wert war, außer natürlich der Kirchenstaat. Angesichts der Inszenierung von Dumas (den ich als großen Autor verehrte) fragte ich mich vielmehr, ob der Seher hier nicht womöglich, während er von einem einzelnen Komplott erzählte, so etwas wie die Allgemeine Form Jedes Möglichen Komplotts entdeckt hatte.
Vergessen wir den Donnersberg, das linke Rheinufer und die Epoche, sagte ich mir. Denken wir uns Verschwörer, die aus allen Teilen der Welt zusammenkommen als Repräsentanten ihrer Sekten, deren Tentakel sich in alle Länder erstrecken, versammeln wir sie auf einer Lichtung, in einer Burgruine, in
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