Die historischen Romane
Zeitungen würden darauf verzichten müssen, Romane zu drucken. Die Stimme derer, die die Übel der Gesellschaft angeprangert hatten, wie Sue und Dumas, war für immer zum Schweigen gebracht.
Trotzdem lamentierte Großvater, der immer öfter nichts mehr mitbekam, aber in helleren Augenblicken noch genau registrierte, was um ihn her vorging, dass die piemontesische Regierung, seit sie Freimaurern wie Massimo d’Azeglio und Graf Camillo Cavour in die Hände gefallen war, sich in eine Synagoge Satans verwandelt habe.
»Stell dir vor, mein Junge«, sagte er, »die Gesetze dieses Siccardi haben die sogenannten Privilegien des Klerus abgeschafft. Was heißt Privilegien, wenn der Klerus im Dienst der Gläubigen steht? Und wieso das Asylrecht in Kirchen abschaffen? Hat eine Kirche etwa weniger Rechte als eine Gendarmeriekaserne? Wieso das Kirchengericht für Geistliche abschaffen, die gewöhnlicher Delikte angeklagt sind? Hat die Kirche etwa kein Recht, über die ihren zu richten? Wieso die kirchliche Vorzensur der Publikationen abschaffen? Darf jetzt etwa jeder schreiben, was ihm gefällt, ohne Hemmungen und ohne Achtung vor Glauben und Moral? Und als unser Erzbischof Fransoni den Turiner Klerus aufgefordert hat, diesen Verfügungen nicht zu gehorchen, ist er vor Gericht gestellt und zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden! Und jetzt sind wir bei der Unterdrückung der Bettel- und Schweigeorden angelangt, mehr als dreißig Klöster, fast sechstausend Ordensbrüder und -schwestern! Der Staat zieht ihre Güter ein und sagt, sie würden zur Bezahlung der Gehälter für die Pfarrer verwendet, aber wenn du alle Güter dieser Orden zusammennimmst, kommst du auf eine Zahl, die zehnmal, ach was, hundertmal soviel wie alle Gehälter des Reiches zusammen ist, und in Wahrheit wird die Regierung diese Gelder in die öffentlichen Schulen stecken, wo man lehrt, was einfachen Leuten nichts nützt, oder man wird es zum Pflastern der Ghettos nehmen! Und das alles tun sie unter dem Motto ›Freie Kirche in freiem Staat‹, wo doch der Staat als einziger wirklich frei ist, seine Amtspflichten zu verletzen. Wahre Freiheit ist das Recht des Menschen, Gottes Gesetz zu befolgen und sich das Paradies oder die Hölle zu verdienen. Heute dagegen versteht man unter Freiheit die Möglichkeit, sich Glaubensformen und Meinungen auszusuchen, von denen eine soviel wie die andere gilt, und es ist dem Staat egal, ob du Freimaurer, Jude, Christ oder Anhänger des Großtürken bist. So wird man gleichgültig für die Wahrheit.«
»Und so, mein Sohn«, klagte eines Abends mein Großvater, der in seiner Verwirrung nicht mehr zwischen mir und meinem Vater unterscheiden und nur noch ächzend und stöhnend sprechen konnte, »so verschwinden dann Lateranensische Kanoniker, reguläre Kanoniker von Sant’Egidio, Barfüßige und Beschuhte Karmeliter, Kartäuser, Cassinesische Benediktiner, Zisterzienser, Olivetaner, Mindeste Brüder, Konventuale Minoriten, Observanz-Minoriten, Reformierte Minoriten, Kapuziner, Oblaten von Santa Maria, Passionisten, Domenikaner, Mercedarier, Diener Mariens, Väter des Oratoriums – und dazu Klarissen, Kreuzschwestern, Zölestinerinnen oder Turchinen und Baptistinnen.«
Und während er diese Liste wie einen Rosenkranz rezitierte, immer erregter und als hätte er gegen Ende vergessen, Atem zu schöpfen, ließ er sich das civet auftragen, mit Speck, Butter, Mehl, Petersilie, einem halben Liter Barbera, einem samt Herz und Leber in eigroße Stücke geschnittenen Hasen, Zwiebelchen, Salz und Pfeffer, Gewürzen und Zucker.
So tröstete er sich eine Weile und hatte sich fast schon wieder beruhigt, aber plötzlich riss er die Augen auf, fiel zurück und verschied mit einem leichten Rülpser.
Die Pendeluhr schlägt Mitternacht, und ich merke, dass ich seit viel zu langer Zeit fast ununterbrochen schreibe. So sehr ich mich auch anstrenge, für heute kann ich mich an nichts mehr erinnern, was in den Jahren nach Großvaters Tod geschehen ist.
Mir dreht sich der Kopf.
5.
Simonini als Carbonaro
Nacht zum 27. März 1897
Verzeihen Sie, Hauptmann Simonini, wenn ich mich in Ihr Tagebuch einmische, das zu lesen ich nicht umhin konnte. Aber es war nicht aus freiem Willen, dass ich heute morgen in Ihrem Bett aufgewacht bin. Wie Sie gewiss schon verstanden haben, bin ich der Abbé Dalla Piccola (oder halte mich jedenfalls dafür).
Ich bin in einem mir unbekannten Bett aufgewacht, in einer mir unbekannten Wohnung,
Weitere Kostenlose Bücher