Die historischen Romane
dritten, ihre entblößte Leistengegend verschmähend, das nur leicht geöffnete Mieder aufknöpfte. Und danach fand ich die kuriose Karikatur eines Abbé mit knollennasigem Gesicht, die sich bei näherem Hinsehen als zusammengesetzt aus lauter miteinander verschlungenen nackten Männer- und Frauenleibern erwies, penetriert von enormen männlichen Gliedern, die scharenweise den Nacken umgaben, wie um mit ihren Hoden eine dichte Haartracht zu bilden, die in pummeligen Locken endete.
Ich weiß nicht mehr, wie diese höllische Nacht endete, in der die Sexualität sich mir in ihren erschreckendsten Aspekten gezeigt hatte (erschreckend im sakralen Sinne des Ausdrucks, wie das Rollen des Donners, das zugleich mit dem Gefühl des Göttlichen die Furcht vor dem Diabolischen und dem Sakrileg auslöst). Ich weiß nur noch, dass ich mich aus jener verwirrenden Erfahrung mit einem Ausspruch rettete, den Pater Pertuso mich vor Jahren hatte auswendig lernen lassen und den ich nun halblaut wie ein Stoßgebet vor mich hinsprach, ohne mich noch an den Autor zu erinnern: »Die Schönheit des Leibes ist auf die Haut beschränkt. Wenn die Männer sähen, was unter der Haut ist, würde ihnen übel werden beim Anblick der Frau. Die weibliche Anmut besteht nur aus Schleim und Blut und Körpersäften und Gallert. Bedenket, was in den Nasenlöchern, im Hals und im Bauche steckt… Und wenn es uns ekelt, Erbrochenes oder Kot auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren, wie können wir dann jemals begehren, einen Sack voller Exkremente in unsere Arme zu schließen?«
Vielleicht glaubte ich in jenem Alter noch an Gottes Gerechtigkeit, jedenfalls schrieb ich es seiner Vergeltung für diese höllische Nacht zu, was dann am nächsten Tage geschah. Ich fand Großvater zusammengesunken in seinem Sessel, röchelnd mit einem zerknitterten Brief in der Hand. Wir riefen den Arzt, ich nahm den Brief und las, dass mein Vater bei der Verteidigung der Römischen Republik tödlich von einer französischen Kugel getroffen worden war, genau in jenem Juni 1849, in dem General Oudinot im Auftrag Louis Napoleons nach Rom geeilt war, um den Heiligen Stuhl von Mazzinianern und Garibaldinern zu befreien.
Großvater ist damals nicht gestorben, dabei war er schon über achtzig, aber er verharrte tagelang in grollendem Schweigen, ich weiß nicht ob aus Hass auf die Franzosen oder auf die Papisten, die ihm seinen Sohn genommen hatten, oder auf seinen Sohn, der es unverantwortlicherweise gewagt hatte, sie herauszufordern, oder auf die Patrioten jeder Couleur, die ihn verdorben hatten. Manchmal gab er klagende Laute von sich und redete von der Verantwortlichkeit der Juden für die Ereignisse, die Italien erschütterten, so wie sie fünfzig Jahre zuvor bereits Frankreich erschüttert hatten.
* * *
Vielleicht zum Gedenken an meinen Vater verbrachte ich lange Stunden auf dem Dachboden mit Romanen, die er hinterlassen hatte, und es gelang mir, den Joseph Balsamo von Dumas abzufangen, der mit der Post eintraf, als mein Vater ihn schon nicht mehr hätte lesen können.
Dieser wunderbare Roman erzählt bekanntlich die Abenteuer des Grafen Cagliostro und wie er die Affäre mit dem Halsband der Königin angezettelt hat, durch die mit einem Schlag der Kardinal de Rohan moralisch und finanziell ruiniert, die Königin Marie-Antoinette kompromittiert und der ganze Hof der Lächerlichkeit preisgegeben waren, so dass viele zur Überzeugung gelangten, durch Cagliostros Betrug sei das Prestige der Monarchie so gründlich ruiniert worden, dass er letztlich zur Revolution von 1789 geführt habe.
Aber Dumas geht noch weiter, er sieht in Cagliostro alias Joseph Balsamo denjenigen, der bewusst nicht nur einen Betrug, sondern ein politisches Komplott im Schatten des weltweiten Freimaurertums organisiert hat.
Ich war fasziniert von der Eröffnungsszene. Ort: der Donnersberg, französisch Mont Tonnerre. Am linken Rheinufer, in der nördlichen Pfalz, wenige Meilen entfernt von der alten Kaiserresidenz Worms, beginnt eine Reihe von düsteren Bergen mit bedeutungsschweren Namen wie Königsstuhl, Falkenstein, Schlangenkopf, und der höchste von allen ist der Donnersberg. Am Abend des 6. Mai 1770 (also fast zwanzig Jahre vor dem Ausbruch der schicksalhaften Revolution), während die Sonne im ganzen Rheingau hinter der Nadelspitze des Straßburger Münsters versinkt, so dass sie fast in zwei feurige Hälften zerteilt erscheint, reitet ein Unbekannter, aus Mainz kommend, die Hänge
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