Die historischen Romane
irgendwie ging ich ja ins Exil), aber dann hat die Stadt mich erobert, und ich beschloss, hier für den Rest meines Lebens zu bleiben.
Ich wusste nicht, wie lange mein Geld reichen würde, daher suchte ich mir ein Zimmer in einem Hotel im Viertel der Bièvre. Zum Glück konnte ich mir ein eigenes leisten, denn in diesen Absteigen enthielt ein einziges Zimmer oft bis zu fünfzehn Strohsäcke, und manche hatten kein Fenster. Die Möbel kamen vom Sperrmüll, die Laken waren voller Würmer, eine Zinkschüssel diente als Abort, ein Eimerchen als Urinal, es gab nicht mal einen Stuhl, ganz zu schweigen von Seife und Handtuch. Ein Schild an der Wand forderte dazu auf, den Schlüssel außen stecken zu lassen, offenbar damit die Polizisten keine Zeit verloren, wenn sie, was öfter vorkam, nachts plötzlich hereinstürmten, die Schlafenden an den Haaren hochrissen, ihre Gesichter im Schein einer Lampe musterten, die Falschen zurückfallen ließen und die Gesuchten die Treppe hinunterschleiften, nachdem sie sie fachgerecht verprügelt hatten, wenn sie sich nicht gleich fügten.
Was das Essen betraf, so hatte ich in der Rue du Petit Pont eine Taverne gefunden, wo man für ein paar Sous einen Teller Fleischreste bekam: Alles, was die Metzger der Hallen ausgesondert hatten – Fleisch, das grün an den fetten Teilen und schwarz an den mageren war –, wurde frühmorgens abgeholt, gesäubert, mit Salz und Pfeffer bestreut, in Essig eingeweicht, dann achtundvierzig Stunden in der guten Luft des Hinterhofes aufgehängt und abends den Gästen serviert. Ruhr garantiert, Preis erschwinglich.
Nach dem, was ich mir in Turin angewöhnt hatte, und den deftigen Gerichten in Palermo wäre ich in wenigen Wochen verhungert, wenn ich nicht schon sehr bald die ersten Honorare von denen bekommen hätte, die mir der Cavaliere Bianco genannt hatte. Und schon damit konnte ich mir das Noblot in der Rue de la Huchette erlauben. Man trat in einen großen Saal, der zu einem alten Innenhof führte, und das Brot musste man selber mitbringen. Neben dem Eingang war eine Kasse, die von der Wirtin und ihren drei Töchtern geführt wurde: Sie berechneten, was man für das Hauptgericht, das Roastbeef, den Käse und die Marmelade zu zahlen hatte oder verteilten eine gekochte Birne mit zwei Nüssen. Nach dem Bezahlen wurde reingelassen, wer mindestens einen halben Liter Wein bestellte: Handwerker, brotlose Künstler, Schreiber.
Hatte man die Kasse hinter sich, gelangte man in eine Küche, wo auf einem riesigen Herd das Hammelragout, das Kaninchen oder der Ochse, das Erbsenpüree oder die Linsen kochten. Bedienung war nicht vorgesehen, man musste sich Teller und Besteck selber holen und sich in die Schlange vor dem Koch einreihen. So rückten die Gäste einander anrempelnd langsam mit ihren Tellern vor, bis sie einen Platz an der riesigen table d’hôte fanden. Zwei Sous für die Suppe, vier Sous für das Rindfleisch, dazu die zehn Centimes für das mitgebrachte Brot, so speiste man für vierzig Centimes. Alles kam mir exzellent vor, und übrigens war mir aufgefallen, dass auch bessere Leute gern kamen, wohl aus Lust, sich mit dem einfachen Volk gemein zu machen.
Doch auch ehe ich ins Noblot gehen konnte, habe ich diese ersten Wochen in der Hölle nie bereut: Ich machte nützliche Bekanntschaften und lernte eine Welt kennen, in der ich später wie ein Fisch im Wasser schwimmen sollte. Und während ich den Reden zuhörte, die in diesen Gassen geführt wurden, entdeckte ich andere Straßen in anderen Teilen von Paris, wie die Rue de Lappe, die ganz den Eisenwaren gewidmet war, sowohl denen für Handwerk und Haushalt als auch denen für weniger reputierliche Operationen, wie Dietriche oder Nachschlüssel, und sogar der Dolch mit einfahrbarer Klinge, den man im Jackenärmel verborgen halten kann, fehlte nicht.
Ich verbrachte so wenig Zeit wie möglich in meinem Zimmer und gönnte mir die einzige Freude, die dem Pariser mit leeren Taschen vorbehalten ist: das Flanieren auf den Boulevards. Bisher hatte ich mir nicht klargemacht, wieviel größer Paris als Turin ist. Ich war fasziniert vom Schauspiel der vielen Menschen aus allen Schichten, die an mir vorbeikamen, wenige eilig, um irgendetwas zu besorgen, die meisten gemächlich, um sich gegenseitig zu betrachten. Die gutbürlichen Pariserinnen kleideten sich mit viel Geschmack, und wenn nicht sie selbst, so erregten doch ihre Frisuren und Hüte meine Aufmerksamkeit. Leider flanierten auf diesen Boulevards auch die
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