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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Servieren, so dass es zur rechten Zeit kalt geworden aufgetragen werden kann.
    Dennoch ist mir nicht heiter zumute, und ich verspüre das Bedürfnis, meinen Gemütszustand zu klären, indem ich dieses Tagebuch wiederaufnehme, als wäre ich noch bei Dr. Froïde in Behandlung.
    Der Grund ist, dass weiter beunruhigende Dinge geschehen sind und ich in einer fortwährenden Unsicherheit lebe. Vor allem quäle ich mich noch immer damit, herauszufinden, wer der Russe ist, der tot in meiner Kloake liegt. Er war hier gewesen, und vielleicht waren es sogar zwei Russen, hier in diesen Räumen am 12. April des vorigen Jahres. Ist einer von ihnen womöglich wiedergekommen? Mehrmals konnte ich etwas nicht finden – nichts Besonderes, eine Schreibfeder, eine Lage Papier –, und dann fand ich sie an einer Stelle wieder, wo ich schwören könnte, sie niemals hingelegt zu haben. Ist jemand hiergewesen, hat zwischen meinen Sachen gewühlt, hat sie verrückt, hat etwas gefunden? Was?
    Russen, das heißt Ratschkowski, aber der Mann ist eine Sphinx. Er kam mich zweimal besuchen, immer um mich nach dem zu fragen, was er für noch unveröffentlichtes Material aus der Erbschaft meines Großvaters hält, und ich habe ihn hingehalten, zum einen weil ich noch kein befriedigendes Dossier zusammengestellt habe, zum anderen, um seine Begierde danach zu steigern.
    Beim letzten Mal sagte er mir, er sei jetzt mit seiner Geduld am Ende. Er bestand darauf zu erfahren, ob es bloß eine Frage des Geldes sei. Nein, erwiderte ich, ich sei nicht geldgierig, mein Großvater habe mir wirklich Dokumente hinterlassen, in denen vollständig protokolliert worden sei, was in jener Nacht auf dem Prager Friedhof gesagt worden war, aber ich hätte sie nicht bei mir, ich müsse Paris verlassen, um sie von einem bestimmten Ort zu holen. »Dann tun Sie das«, sagte Ratschkowski. Und schloss mit einer vagen Anspielung auf den Ärger, den ich durch die Weiterentwicklung der Affäre Dreyfus bekommen könnte. Was weiß er darüber?
    Tatsächlich war mit Dreyfus’ Verbannung auf die Teufelsinsel der Fall keineswegs ausgestanden. Im Gegenteil, inzwischen haben diejenigen ihre Stimme erhoben, die Dreyfus für unschuldig halten, die sogenannten »Dreyfusards«, wie sie jetzt allgemein genannt werden, und mehrere Graphologen haben sich zu Wort gemeldet, um das Gutachten von Bertillon in Frage zu stellen.
    Alles hatte Ende November 95 angefangen, als Sandherr den Nachrichtendienst verließ (er scheint an fortgeschrittener Paralyse oder etwas in der Art zu leiden) und von einem gewissen Picquart ersetzt wurde. Dieser Picquart erwies sich sogleich als ein Wühler, der seine Nase in alles stecken muss, und offensichtlich wühlte er auch weiter in der Affäre Dreyfus herum, obwohl sie seit Monaten abgeschlossen war, und so kam es, dass man im März vorigen Jahres in einem der üblichen Papierkörbe der deutschen Botschaft den Entwurf eines Telegramms fand, das der deutsche Militärattaché an Major Esterházy schicken wollte. Nichts Kompromittierendes, aber wieso unterhielt dieser Militärattaché Beziehungen zu einem französischen Offizier? Picquart nahm Esterházy genauer unter die Lupe, besorgte sich Handschriftenproben von ihm und entdeckte, dass seine Handschrift derjenigen des angeblich von Dreyfus geschriebenen Bordereau glich.
    Ich erfuhr davon, weil die Nachricht zur Libre Parole durchgesickert war und Drumont sich mächtig aufregte über diesen Störenfried, der eine glücklich beigelegte Affäre wieder aufrühren wollte.
    »Ich weiß, dass Picquart zu den Generälen Boisdeffre und Gonse gegangen ist, um ihnen die Sache anzuzeigen, aber zum Glück haben sie ihm kein Gehör geschenkt. Unsere Generäle sind ja nicht neurotisch.«
    Anfang November traf ich Esterházy in der Redaktion, er war sehr nervös und bat mich um ein privates Gespräch. Er kam zu mir nach Hause, begleitet von einem Major Henry.
    »Simonini, man munkelt, die Handschrift des Bordereau sei meine. Sie haben sie doch aus einem Brief oder einer Notiz von Dreyfus kopiert, nicht wahr?«
    »Natürlich. Das Muster hatte mir Sandherr gegeben.«
    »Ich weiß, aber warum hatte Sandherr an jenem Tag nicht auch mich zu sich bestellt? Sollte ich das Schriftmuster von Dreyfus nicht zu sehen bekommen?«
    »Ich habe nur getan, worum man mich gebeten hatte.«
    »Ich weiß, ich weiß. Aber Sie täten gut daran, mir bei der Lösung des Rätsels zu helfen. Denn falls Sie zu einer Kabale benutzt worden sind, deren Gründe

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