Die historischen Romane
Blüte bestäubt, die ihn, während sie wächst, ernährt.«
»Aber soweit ich verstanden habe, praktiziert ihr die gegenseitige Liebe und Achtung, ihr tötet keine Tiere und erst recht nicht euresgleichen. Kraft welchen Gebotes tut ihr das?«
»Wir tun das gerade, um das Fehlen jeden Gebotes wettzumachen. Nur indem wir Gutes tun und lehren, können wir uns und unseresgleichen über das Fehlen eines Allvaters hinwegtrösten.«
»Ohne einen Allvater geht es nicht«, murmelte der Poet zu Baudolino, »sieh nur, wie unser schönes Heer beim Tode Friedrichs zerfallen ist. Die leben hier von Luft und Liebe in den Tag hinein, aber wie das Leben geht, wissen sie nicht ...«
Boron war jedoch sehr beeindruckt von ihrer Weisheit und stellte dem Alten eine Reihe von Fragen.
»Wer sind mehr, die Lebenden oder die Toten?«
»Die Toten sind mehr, doch man kann sie nicht mehr zählen. Deswegen sind die, die man sieht, mehr als die anderen, die man nicht mehr sehen kann.«
»Was ist stärker, der Tod oder das Leben?«
»Das Leben, denn beim Aufgang hat die Sonne hell leuchtende Strahlen, und wenn sie untergeht, scheint sie schwächer.«
»Was ist größer, die Erde oder das Meer?«
»Die Erde, denn auch das Meer ruht auf ihr.«
»Was ist zuerst gekommen, der Tag oder die Nacht?«
»Die Nacht. Alles, was entsteht, bildet sich im Dunkel des Bauches und kommt erst danach ans Licht.«
»Was ist die bessere Seite, rechts oder links?«
»Rechts. Geht doch auch die Sonne rechts auf und bewegt sich nach links über den Himmel, und die Frau gibt dem Säugling zuerst die rechte Brust.«
»Welches ist das wildeste aller Tiere?« fragte der Poet.
»Der Mensch.«
»Warum?«
»Frag dich selbst. Auch du bist ein Raubtier, das andere Raubtiere um sich hat und aus Machtgier allen anderen Raubtieren das Leben nehmen möchte.«
Da sagte der Poet: »Aber wenn alle so wären wie ihr, dann gäbe es keine Seefahrt, keinen Ackerbau, keine großen Reiche, die Ordnung und Größe in das kleinliche Durcheinander der irdischen Dinge bringen.«
Darauf der Alte: »Jede dieser Errungenschaften ist sicher ein Glück, aber eines, das auf dem Unglück anderer beruht, und das wollen wir nicht.«
Abdul fragte, ob sie wüssten, wo die schönste und fernste aller Prinzessinnen lebte. »Suchst du sie?« fragte der Alte, und Abdul bejahte. »Hast du sie nie gesehen?« fragte der Alte weiter, und Abdul verneinte. »Willst du sie haben?« und Abdul sagte, das wisse er nicht. Da ging der Alte in seine Hütte und kam mit einer metallenen Platte heraus, die so blank und glänzend war, dass alle Dinge ringsum sich in ihr spiegelten wie auf einer klaren Wasserfläche. »Diesen Spiegel haben wir einmal als Gastgeschenk bekommen«, sagte er, »und wir konnten ihn aus Höflichkeit gegenüber dem Schenkenden nicht ablehnen. Aber niemand von uns würde sich darin betrachten wollen, denn das könnte uns zur Eitelkeit über unseren Körper verführen oder zum Erschrecken über einen körperlichen Mangel, und dann würden wir in der Angst leben, dass uns die anderen verachteten. In diesem Spiegel wirst du vielleicht eines Tages erblicken, was du gesucht hast.«
Kurz vor dem Einschlafen, als sie in ihrer Hütte lagen, sagte der Boidi mit feuchten Augen: »Lasst uns hierbleiben.«
»Toll würdest du aussehen, so ganz splitternackt«, entgegnete der Poet.
»Vielleicht wollen wir zu viel«, sagte Rabbi Solomon, »aber inzwischen können wir nicht mehr anders, als es zu wollen.«
Am nächsten Morgen zogen sie weiter.
27. Kapitel
Baudolino in der Finsternis von Abkasia
Nachdem sie die Gymnosophisten verlassen hatten, irrten sie lange umher auf der Suche nach einem Weg zum Sambatyon, der nicht durch jene schrecklichen Orte führte, die man ihnen genannt hatte. Sie durchquerten Ebenen, durchwateten Flüsse, kletterten steile Hänge empor, während Ardzrouni immer wieder Berechnungen anhand der Karte von Kosmas anstellte und verkündete, dass der Euphrat oder der Tigris oder der Ganges nun nicht mehr weit sein könnten. Der Poet herrschte ihn an, er solle still sein, hässlich und schwarz wie er sei, Solomon wiederholte, er werde schon irgendwann wieder weiß werden, und die Tage und Monate gingen dahin.
Einmal lagerten sie an einem Teich. Das Wasser war nicht das klarste, aber es mochte angehen, und besonders die Pferde genossen es sehr. Als sie sich gerade zum Schlafen legen wollten, ging der Mond auf, und im Licht seiner ersten Strahlen erblickten sie
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