Die historischen Romane
Ich sah auf meinen wohlgerundeten Bauch und sagte zu mir: Du bist schön, Baudolino, sind alle Menschen so schön wie du? Dann lachte ich wie ein Blöder.«
Einziger Trost waren die Momente, in denen sie Besuch von Gavagai bekamen. Ihr Freund war Aloadins Hofnarr geworden, er amüsierte den Alten mit seinen unvermuteten Bewegungen, leistete ihm kleine Dienste, indem er durch Säle und Korridore flitzte, um seine Befehle zu überbringen, hatte Sarazenisch gelernt (das er so ähnlich sprach wie sein Griechisch) und genoss viele kleine Freiheiten. Er brachte seinen Freunden manchmal Leckerbissen aus der Küche des Herrn, hielt sie auf dem Laufenden über die Geschehnisse in der Burg, über die verdeckten Kämpfe zwischen den Eunuchen um die Gunst des Herrn und über die mörderischen Missionen, zu denen die halluzinierenden Jünglinge ausgesandt wurden.
Einmal brachte er Baudolino etwas grünen Honig, nur ganz wenig, sagte er, sonst würde er sich so zurichten wie diese mörderischen Bestien. Baudolino nahm davon und erlebte eine Liebesnacht mit Hypatia. Doch gegen Ende des Traums verwandelte sich die Gestalt der Geliebten: Sie bekam schöne glatte weiße Beine, wie sie die Menschenfrauen haben, und einen Ziegenkopf.
Eines Tages sagte Gavagai den Gefangenen, dass ihre Waffen und ihre Reisesäcke in einer Kammer lagen und dass er sie holen könne, wenn sie eine Flucht versuchen wollten. »Ja glaubst du denn wirklich, Gavagai, dass wir eines Tages von hier fliehen können?« fragte ihn Baudolino. »Ich glaube ja. Ich glaube, gibt viele gute Arten von Flucht. Muss nur rausfinden, welche beste. Aber du werden dick wie Eunuche, und wenn dick, du schlecht fliehen. Du muss Körper bewegen, wie ich, du halte Fuß über Kopf, dann du werden sehr schnell.«
Den Fuß hielt sich Baudolino nicht über den Kopf, aber er begriff, dass die Hoffnung auf eine Flucht, sei sie auch vergeblich, ihm helfen würde, die Gefangenschaft zu ertragen, ohne verrückt zu werden, und so bereitete er sich darauf vor, indem er die Arme streckte und Kniebeugen machte, bis er erschöpft auf seinen wohlgerundeten Bauch fiel. Er empfahl es auch den anderen, und mit dem Poeten übte er Kampfbewegungen; bisweilen verbrachten sie ganze Nachmittage mit dem Versuch, sich gegenseitig zu Boden zu werfen. Mit der Kette am Fuß war das nicht leicht, und sie hatten ihre einstige Gelenkigkeit verloren. Nicht nur wegen der Gefangenschaft. Es war das Alter. Aber die Bewegung tat ihnen gut.
Der einzige, der seinen Körper völlig vergaß, war Rabbi Solomon. Er aß nur sehr wenig und war zu schwach für die verschiedenen Arbeiten, so dass die Freunde seinen Teil übernahmen. Da er keine Buchrolle zum Lesen und kein Werkzeug zum Schreiben hatte, verbrachte er seine Tage damit, den Namen des Herrn zu wiederholen, und jedes Mal war es ein anderer Klang. Er hatte die noch verbliebenen Zähne verloren, sein Mund war jetzt auf beiden Seiten zahnlos. Er aß mümmelnd und sprach nuschelnd. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die zehn verstreuten Stämme nicht in einem Reich bleiben konnten, das zur Hälfte von Nestorianern bewohnt war – die ja noch angehen mochten, denn auch für die Juden konnte die gute Frau Maria unmöglich einen Gott geboren haben –, aber zur anderen Hälfte von Götzenanbetern, die je nach Lust und Laune die Zahl ihrer Götter vermehrten oder verringerten. Nein, sagte er sich ungetröstet, vielleicht sind die zehn Stämme durch das Reich gezogen und haben danach wieder angefangen, in der Welt umherzuschweifen. Wir Juden suchen immer nach einem Gelobten Land, sofern es nur anderswo ist, und wer weiß, wo sie jetzt sein mögen, vielleicht sind sie ganz in der Nähe von diesem Ort, wo ich dabei bin, meine Tage zu beenden, aber ich habe alle Hoffnung verloren, ihnen zu begegnen. Erdulden wir die Prüfungen, die uns der Herr, heilig immerdar sei der Gesegnete, schickt. Hiob hat Schlimmeres erlebt.
»Er war mit dem Kopf woanders, das sah man ihm an. Und mit dem Kopf woanders schienen mir auch Boron und Kyot zu sein, die ständig über jenen Gradal phantasierten, den sie zu finden hofften, ja den sie inzwischen sicher waren zu finden, und je mehr sie von ihm redeten, desto wunderbarer wurden seine ohnehin schon wunderbaren Kräfte und desto heftiger träumten sie davon, ihn zu besitzen. Der Poet wiederholte in einem fort: Lasst mich nur Zosimos zu fassen kriegen, dann werde ich zum Herrn der Welt. Vergesst Zosimos, sagte ich: Er ist nicht einmal
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