Die historischen Romane
vermocht, aber dafür hat er sich geistesgegenwärtig meine Linsen vom Tisch geschnappt.«
»Und warum?«
»Weil er kein Dummkopf ist. Er hat mich von diesem Pergament mit den seltsamen Zeichen reden hören, hat begriffen, dass es wichtig ist, hat sich gedacht, dass ich ohne die Gläser nicht in der Lage sein werde, es zu entziffern, und weiß mit Sicherheit, dass ich es niemandem zeigen werde. Und in der Tat: es ist jetzt so, als ob ich das Pergament gar nicht hätte.«
»Aber woher wusste er um den Wert Eurer Augengläser?«
»Nun, das war nicht schwer zu erraten. Wir hatten gestern nicht nur mit dem Glasermeister darüber gesprochen, ich hatte sie auch heute Morgen im Skriptorium auf, um mir Venantius’ Bücher anzusehen. Es gab also viele, die sich denken konnten, wie kostbar diese Linsen für mich sind. Und in der Tat, ein normales Manuskript könnte ich notfalls auch ohne sie lesen, aber dieses hier nicht.« William entrollte das mysteriöse Pergament von Neuem. »Die griechische Schrift im unteren Teil ist zu klein, und der obere Teil ist zu ungewiss...«
Er zeigte mir die geheimnisvollen Zeichen, die wie durch Zauber in der Wärme der Flamme erschienen waren. »Venantius wollte sich ganz offenbar ein wichtiges Geheimnis notieren und hat dazu eine jener Tinten genommen, die beim Schreiben keine Spur hinterlassen und erst sichtbar werden, wenn man sie erwärmt. Vielleicht hat er auch Zitronensaft genommen. Und da ich nicht weiß, was für eine Substanz er benutzt hat, und wir damit rechnen müssen, dass diese Zeichen bald wieder verschwinden, ist es besser, wenn du sie jetzt rasch kopierst. Du hast gute Augen, los, zeichne sie nach, so genau du kannst, möglichst ein wenig größer!« Und so tat ich es, ohne zu wissen, was ich da nachzeichnete. Es handelte sich um vier oder fünf wahrhaft nekromantische Zeilen, von denen ich hier nur den Anfang der ersten wiedergebe, um dem Leser eine Ahnung zu vermitteln, vor welchem Rätsel wir standen:
Als ich fertig war, nahm William meine Tafel, hielt sie hoch und musterte die Kopie, leider ohne seine Augengläser. »Zweifellos eine Geheimschrift, die wir entziffern müssen«, sagte er. »Die Zeichen sind schlecht gemalt, und vielleicht hast du sie in deiner Kopie noch mehr verzerrt, aber es handelt sich fraglos um ein Alphabet aus Tierkreiszeichen. Sieh hier, in der ersten Zeile haben wir« – er hielt die Tafel mit gestreckten Armen weit von sich und kniff die Augen zusammen – »Schütze, Sonne, Merkur, Skorpion...«
»Und was bedeuten sie?«
»Nun, wenn Venantius naiv gewesen wäre, hätte er das gewöhnlichste Tierkreiszeichen-Alphabet benutzt: A gleich Sonne, B gleich Jupiter und so fort... Die erste Zeile hieße dann also... schreib das mal mit... RAIQASVL...« Er unterbrach sich. »Nein, das ergibt keinen Sinn, Venantius war nicht naiv. Er hat das Alphabet in eine andere Ordnung gebracht. Ich muss sie herausbekommen.«
»Ja ist das denn möglich?« fragte ich voller Bewunderung.
»Gewiss, wenn man ein wenig von der arabischen Wissenschaft weiß. Die besten Traktate über Kryptographie sind Werke ungläubiger Gelehrter, ich hatte in Oxford die Möglichkeit, mir einige davon vorlesen zu lassen. Roger Bacon sagte zu Recht, dass der Erwerb des Wissens mit dem Erlernen der Sprachen beginnt. Abu Bakr Ahmad ben Ali ben Washiyya an-Nabati schrieb vor Jahrhunderten ein Buch der unbezähmbaren Begierde des Frommen, die Rätsel der alten Schriften zu lösen. Darin finden sich viele Regeln zur Bildung und zur Entzifferung von Geheimschriften, die man zu magischen Zwecken benutzen kann, aber auch zur Verschlüsselung der Korrespondenz zwischen zwei Armeen oder zwischen einem König und seinen Botschaftern. Ich habe auch andere arabische Bücher gesehen, in denen sehr sinnreiche Kunstgriffe aufgeführt werden. Du kannst zum Beispiel einen Buchstaben durch einen anderen ersetzen, du kannst ein Wort von hinten nach vorn schreiben, du kannst die Buchstaben des Alphabets in eine verkehrte Reihenfolge bringen, aber dabei immer einen überspringen und dann das Ganze nochmal von vorn, du kannst auch, wie hier in diesem Fall, die Buchstaben durch Tierkreiszeichen ersetzen, aber dabei den verschlüsselten Buchstaben ihren Zahlenwert zuschreiben und dann diese Zahlen nach einem anderen Alphabet in andere Buchstaben verwandeln...«
»Und welches dieser Systeme wird Venantius benutzt haben?«
»Wir müssen sie alle durchprobieren und noch andere dazu. Aber die
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