Die Hitlers: Die unbekannte Familie des Führers
ein paar Brocken Deutsch, der Vater unterhält sich mit ihm auf Englisch und spielt den Dolmetscher. In den Wochen seines Deutschlandaufenthalts taucht William Patrick immer tiefer in die Hitlersche Familiengeschichte ein. Er saugt alle Anekdoten auf, die die Verwandten zum Besten geben. Auch Tante Angela lernt er kennen.
Der Höhepunkt der Reise wird aber ein Besuch beim Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg. Alois fährt mit seiner Frau und Willie mit dem Zug dorthin, nur in der dritten Klasse, wie sich der junge Mann später bei seiner Mutter beschwert. Die Nazi-Show macht mächtig Eindruck auf den englischen Hitler: »Ich sah nichts als Flaggen. Sie hingen überall, alles war damit dekoriert. Man konnte nicht einmal mehr die Häuser sehen. Wie auf einem riesigen Jahrmarkt.« 164 Die mit zunehmender Perfektion inszenierten Nürnberger Parteitage bescheren den Teilnehmern immer wieder ein berauschendes Gemeinschaftsgefühl. Die Fahnenorgien, die Aufmärsche und NS-Kampfspiele auf dem riesigen Gelände pflegten den Hitler-Kult und gaben seinem Mythos jedes Jahr neue Nahrung. Zweieinhalb Stunden lang marschieren Verbände von SA und SS am Abend mit Fackeln und Musikkapellen.
Zum ersten Mal sieht William den berühmten Onkel leibhaftig – wenn auch nur von Ferne. Am Sonntag, den 4. August, nach dem Aufmarsch der Braunhemden und dem »niederländischen Dankgebet« erscheint um neun Uhr morgens der NS-Führer auf dem Luitpoldhain. Mit der »Blutfahne« des Bierhallenputsches von 1923 »weiht« Adolf Hilter die neuen Banner und erklärt in seiner Ansprache, dass diese Fahnen »am Ende des Siegeslaufes in Deutschland als Symbol des Reiches gelten werden, und keine Macht der Welt« werde die Fahnen dann mehr brechen. Unter den Klängen des Präsentiermarsches ziehen Parteisoldaten mit den Standarten an der Tribüne vorbei. Hitlers Verwandte sind unter den Zuschauern, aber nicht auf der Ehrentribüne, sondern lediglich unter den zehntausenden brüllenden Parteimitgliedern. Vater Alois gelingt es nicht, einen persönlichen Termin mit seinem Bruder zu organisieren. Beim späteren Defilee auf dem Nürnberger Hauptmarkt stecken William und Alois unter den mehr als 100 000 fanatisch jubelnden Menschen, die vierstündige Parade der Parteiabordnungen aller Regionen und der Abschluss mit SS-Truppen verfehlen ihre Wirkung nicht. Erst später wird bekannt, dass gewalttätige Auseinandersetzungen mit Nazi-Gegnern mehrere Tote und viele Verletzte fordern.
Der junge William ist begeistert, das Live-Erlebnis in Nürnberg macht ihm schlagartig klar: Sein Onkel Adolf ist nicht nur berühmt, sondern auch ein mächtiger Mann. Ein Politiker, der kostspielige Parteitage inszenieren lässt, der alle mühelos auf seine Person als »Führer« einschwört, bei dem ein Wort reicht, um Berge zu versetzen. Und er, William Patrick Hitler, ist der Neffe dieses Mannes. Bei einem zweiten Besuch ein Jahr später vertieft William in Gesprächen sein Wissen über die Familie, lernt Deutsch.
Zurück in London zaudert er nicht lange, nimmt Kontakt mit der Presse auf und gibt die folgenschweren Interviews in den beiden Zeitungen, die ihn wieder nach Berlin führen und diesmal seinem Onkel von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten lassen. Mit dem Leugnen der Verwandtschaft macht Adolf Hitler einen Fehler: Er rechnet nicht mit der Hartnäckigkeit seines englischen Neffen. »Als mein Vater meine Nichtanerkennung durch Hitler mitbekam, wandte er sich ebenfalls gegen mich und schickte mich nach England zurück«, berichtet William Patrick, »ich merkte, wenn Hitler mich als Hochstapler denunzieren wollte, würde mein Vater sicher zu ihm halten – was ich brauchte, war ein wasserdichter Beweis, dass ich Adolf Hitlers Neffe war.« 165
Druck auf den Onkel
Jedenfalls laufen die Dinge nicht nach Plan. Die Arbeit und das Einkommen sind bescheiden, und die öffentliche Anerkennung als einer der Hitlers bleibt ihm versagt. William möchte die Bank verlassen und wünscht sich eine Aufgabe, die ihm mehr Geld beschert. Er schreibt im Herbst 1934 an die Reichskanzlei mit der Bitte um einen persönlichen Gesprächstermin mit seinem Onkel. Am 24. Oktober erhält er eine Antwort vom persönlichen Adjutanten Hitlers:
»Sehr geehrter Herr Hitler!
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich am Donnerstag, den 25. d. M. gegen 13 Uhr in der Reichskanzlei zu einer Rücksprache einfinden wollten.
Mit deutschem Gruß
Wilhelm Brückner, SA-Gruppenführer« 170
Der Besuch fällt
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