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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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zu wenden. Feuchtes, bizarres Gestein umgab ihn, ab und zu unterbrochen von tief herabhängendem Fels. Er musste scharf Acht geben, um sich nicht zu stoßen. Vorsichtig tastete er sich weiter. Er ging jetzt langsamer, weshalb die Kälte ihm unaufhaltsam in die Knochen kroch. Flüchtig musste er an Marthe denken, die ihm wärmere Kleidung hatte aufdrängen wollen. Nun bereute er, nicht auf sie gehört zu haben.
    Abermals eine Abzweigung. Auch diesmal hielt er sich links. Er hatte sich vorgenommen, seine Schritte ständig mitzuzählen, aber es mittlerweile vergessen. Verärgert über sich selbst, strebte er voran, den Faden immerfort abspulend. Das Knäuel war schon bedrohlich klein geworden. Viel länger durfte sein Ausflug nicht werden. Bei der dritten Gabelung verfuhr er wie bisher, stand aber bald darauf vor einer Wand. Der Gang endete hier. Lapidius hielt die Lampe hoch, um besser sehen zu können. Winzige Insekten und Spinnen krabbelten im Schein der Flamme, allesamt kaum oder gar nicht pigmentiert.
    »Lichtscheues Getier«, brummte Lapidius, »kein schöner Anblick.« Er drehte um und rollte im Zurückgehen das Knäuel wieder auf. Es war ein mühevolles Unterfangen, denn eigentlich brauchte er dazu drei Hände. Zwei zum Wickeln und eine weitere Hand, um die Lampe zu halten. Er behalf sich, indem er die Lichtquelle immer erst ein paar Schritte voraus abstellte und anschließend mit dem Knäuel folgte.
    An der zuletzt passierten Gabelung sagte der Faden ihm, aus welcher Richtung er gekommen war. Er wandte sich nochmals nach links und begegnete schon nach wenigen Schritten einer neuen Abzweigung. Lapidius unterdrückte eine Verwünschung. Die Höhle schien nur aus Gängen und Gabelungen zu bestehen! Doch unbeirrt hielt er sich an seinen eingeschlagenen Weg. Wenig später war sein Knäuel aufgebraucht. Sollte er zurückgehen? Nein. Jetzt, wo er so weit gekommen war, wollte er nicht kehrtmachen. Er legte das Fadenende am Boden ab und bewegte sich weiter vorwärts. Zehn Schritte, fünfzehn, zwanzig …
    Und mit j edem Schritt, den er vordrang, fühlte er deutlicher, dass es wieder da war: das Böse. Das Ungreifbare und Unbegreifliche. Irgendwo in seiner Nähe war es. Hinter ihm, vor ihm, neben ihm. Und wo eben noch steinerner Fels gewesen war, erblickte er jetzt – nichts. Schwarzes Nichts.
    »Allmächtiger! «, entfuhr es ihm, unwillkürlich zurücktretend, denn der Widerhall seines eigenen Wortes hatte ihn erschreckt. Er kämpfte seine Beklommenheit nieder und hielt die kleine Lampe in alle Richtungen. Es schien, als wäre er in einer großen Felsenhalle angelangt, einem Höhlendom.
    Zögernd tat er ein paar Schritte vorwärts und erkannte jetzt eine Wand vor sich, von der zwei Wege abgingen. An seinen schlechten Orientierungssinn denkend, bewegte er sich sofort zurück und kennzeichnete den Gang, aus dem er gekommen war, mit einem Kreuz. Sich wieder zur Mitte bewegend, versuchte er, ein genaueres Bild von der Höhle zu gewinnen. Sie maß vielleicht zwanzig mal dreißig Schritte, wobei dies nur eine grobe Schätzung sein konnte, da ihre Fläche keineswegs rechteckig war, sondern mehr oder minder starke Ausbuchtungen aufwies.
    Unversehens meldete Lapidius’ feine Nase ihm eine Veränderung – es roch nach Weihrauch. Wie konnte das sein? Er schloss die Augen, um sich ganz auf die Wahrnehmung konzentrieren zu können. Nein, ein Zweifel war ausgeschlossen: Intensiver Weihrauchgeruch lag in der Luft. Er öffnete die Augen wieder und schrie vor Schreck auf.
    Er hatte das Steingesicht gesehen.
    Es war eine Reliefbildung im Fels, die sich zwischen den beiden gegenüberliegenden Gängen befand. Eine hässliche, sich in ihrer Bedrohlichkeit nur aus einem ganz bestimmten Blickwinkel offenbarende Erscheinung. Lapidius vergaß den Weihrauchduft. Probehalber ging er drei Schritte vor, drei zurück und drei zur Seite, und jedes Mal verschwand das Steingesicht wie von Zauberhand. Wer nicht an Truttner und Dämonen glaubte, der konnte es spätestens hier lernen.
    Zoll für Zoll begann Lapidius nun den Boden abzuleuchten, was zunächst nichts erbrachte. Dann aber erkannte er fünf Erhebungen im Fels, abgeflachte, gelbliche Kegel, mit denen er nichts anzufangen wusste. Eine Laune der Natur? Nachdenklich richtete er sich auf und zuckte zusammen. Ein Wassertropfen war ihm in den Nacken gefallen. Ein Tropfen, so dick, dass er ihm den halben Kragen durchnässt hatte. Wo kam der her?
    Lapidius hielt die Öllampe hoch und spähte in die

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