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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Leben blieb.
    Eine gute Stunde später stand Lapidius nach Atem ringend vor dem kugelförmigen Fels, von dem der alte Holm behauptet hatte, es brauche zehn Männer, ihn zu umfangen. Unter ihm lag die Zirbelhöh mit der riesigen Buche, deren grünendes Geäst vom Schnee noch einmal weiß gefärbt worden war. In ihrem Schatten, uneinsehbar, lag das Grab der schiefen Jule.
    Als sein Herzschlag halbwegs zur Ruhe gekommen war, zog Lapidius mit den Augen eine Linie zwischen der Buche und dem Fels und verlängerte sie in Richtung Berg. Er merkte sich den Punkt und umrundete den massigen Stein. Dabei fiel ihm auf, dass es mit dem Fels eine besondere Bewandtnis hatte, denn so gewaltig seine Ausmaße waren, so klein war die Fläche, auf der er ruhte. Sie maß wohl kaum einen Fuß im Quadrat. Ein oder zwei starke Männer konnten ihn wahrscheinlich von seinem Sockel stoßen.
    Auf der anderen Seite angelangt, tat sich vor Lapidius eine Überraschung auf, denn der Berg stieg nicht weiter an, wie er vermutet hatte, sondern fiel zunächst leicht ab, bevor er wieder an Steigung gewann. Von hier aus sollten es nur noch wenige Schritte bis zum Höhleneingang sein. Doch er konnte keine Öffnung erspähen. Stattdessen bemerkte er Spuren. Stiefelspuren. Sie kamen von der anderen Seite des Ensbacher Grabens. Männer waren hier gegangen, drei an der Zahl; die Größe und die Unterschiedlichkeit der Abdrücke zeigten es an. Lapidius hockte sich nieder, um mehr herauszufinden. Die Spuren waren nicht mehr frisch, aber von einer hauchdünnen Lage weiteren Schnees bedeckt. Da es heute nicht geschneit hatte, musste es der Niederschlag der vergangenen Nacht sein. Vielleicht auch der des gestrigen Tages. Das hieß, die Abdrücke waren mindestens vierundzwanzig Stunden alt. Oder auch älter, denn wann, wo und wie oft es im Oberharz über Kirchrode schneite, wusste niemand genau zu sagen. Allenfalls Holm, aber der würde keine Hilfe sein. Der saß jetzt mit Sicherheit im Querschlag und versoff den Taler, den er, Lapidius, ihm in seiner Gutmütigkeit geschenkt hatte.
    Das Unwissen verwünschend, mit dem er ständig zu kämpfen hatte, beugte Lapidius sich noch tiefer über die Spuren. Er stellte fest, dass sie in Richtung Bergspitze führten und von dort wieder hinunter. Die Männer waren also gekommen und anschließend gegangen. Und dann bemerkte er etwas Ungewöhnliches: Einer der Unbekannten hinkte. Sein linker Stiefel drückte sich auswärts und nach vorn tiefer ein, was bewirkte, dass die Sohle nicht vollständig sichtbar war. Daraus konnte man schließen, dass er ein verkrüppeltes Bein hatte.
    Langsam folgte Lapidius den Spuren. Schritt für Schritt zählte er mit, durch die Senke und wieder bergan, und als er bei neunundzwanzig angelangt war, machte er Halt. Viele Abdrücke tummelten sich hier, aber von einer Öffnung im Berg war weit und breit nichts zu sehen. »Sabbathöhle, wo ist dein Eingang?«, sprach Lapidius zu sich selbst. »Irgendwo muss er doch sein!«
    Immer wieder blickte er nach oben – und sah nichts Besonderes. Nur ein paar armselige, sich unter dem Wind beugende Büsche. Und dann, weil es gar keine andere Möglichkeit gab, wusste er, dass die Öffnung sich hinter dem Gesträuch befand.
    Und so war es auch. Der Eingang lag hinter dichtem Zweigwerk, war höchstens vier Fuß hoch und eine Elle breit. Lapidius hatte Mühe, hineinzuschlüpfen. Drinnen angekommen, stand er in gebückter Haltung da und starrte in die Finsternis. Feuchter, moosiger Geruch schlug ihm entgegen. Er nestelte in seinen Taschen, ertastete die Ziegenhörner, die er noch von seinem Ausflug zum Knopfmacher Nichterlein bei sich trug, forschte weiter und fand endlich das, was er suchte: eine kleine Öllampe von der Art, wie sie auch bei Freyja brannte, dazu Stahl und Stein. Er entzündete die Lampe, stellte sie am Boden ab und förderte als Nächstes ein Wollknäuel zu Tage, dessen Ende er an einen kräftigen Zweig vor der Höhle band. »Der Ariadnefaden, mit dem Theseus ins Labyrinth eindrang, war sicher feiner«, murmelte er, »aber ein Spinnfaden von Marthe wird es genauso tun.«
    Er nahm die Lichtquelle auf und ging vorsichtig ins Innere, das Knäuel ständig dabei abspulend. Rasch wurde der Gang höher, und Lapidius atmete auf. Nach zwanzig Schritten, es ging, wie er glaubte, leicht bergab, kam er an eine Gabelung. Er hatte sich schon vorher überlegt, wie er sich in einer solchen Situation verhalten wollte, und beschlossen, sich grundsätzlich nach links

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