Die Hitzkammer
war da. Sie lag halb unter der Flechterbank, und sie war tot. Lapidius stieß einen unterdrückten Schrei aus. Er wollte nicht glauben, was er sah. Aber seine Augen trogen ihn nicht.
Er musste sich erst einmal setzen und sank auf den Arbeitsschemel, während tausend Gedanken in seinem Kopf rumorten. Die schiefe Jule. Er hatte sie gemocht. Sie war ruhig, freundlich und gescheit gewesen. Sie hatte sich das Leben nicht verbittern lassen, trotz ihrer leiblichen Unzulänglichkeit. Doch nun lag sie entseelt da, und vieles sprach dafür, dass sie nicht eines natürlichen Todes gestorben war.
Lapidius raffte sich auf und begann mit der Untersuchung. Vorsichtig zog er den Körper hervor und drehte ihn so, dass er in das bleiche Gesicht blicken konnte. Panik stand darin. Bevor sie starb, musste die schiefe Jule Todesängste ausgestanden haben. Ihre Gliedmaßen, so stellte er fest, ließen sich leicht bewegen. Hatte die Totenstarre noch nicht eingesetzt? Oder hatte sie sich bereits wieder gelöst? Die Antwort gaben Jules aufgerissene Augen. Ihre Beschaffenheit sagte ihm, dass sie schon länger als ein paar Stunden tot war. Die Stirn war glatt. Niemand hatte die Buchstaben F und S in sie hineingeschnitten. Dafür fand sich eine hässliche Schlagwunde am Schläfenbein mit viel verkrustetem Blut. Sie mochte für den Tod verantwortlich sein. Aber wo war der Gegenstand, der die Wunde verursacht hatte?
Nach kurzer Suche hatte Lapidius ihn gefunden. Es war Jules Stock. Sie war mit ihrer eigenen Krücke erschlagen worden, denn das untere Ende wies Blut- und Haarspuren auf.
Lapidius setzte sich wieder. Er musste kühlen Kopf bewahren. Eines war klar: So konnte er die Tote nicht verlassen. Es lag nahe, nach Kirchrode zurückzulaufen, um jemanden zu holen, der sie beerdigte. Krott zum Beispiel. Doch gewichtige Gründe sprachen dagegen. Erstens die Tatsache, dass man ihm den Mord in die Schuhe schieben würde. Und zweitens die Zeit. Er würde Stunden verlieren und heute nicht mehr nach der Sabbathöhle suchen können.
Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen war einfach: Er selbst musste der Toten ein Grab schaufeln. Aber wo? Jules Holzhaus war auf festem Gestein erbaut. Nur bei der Buche, die nicht weit entfernt stand, gab es genügend tiefen Erdboden. Dort mochte ein schöner Platz für die letzte Ruhe sein.
Während Lapidius nur in Hose und Wams arbeitete – es war eine schweißtreibende Tätigkeit, denn die Krume war noch teilweise gefroren –, kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem fehlenden Obstpflückerkorb zurück. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er das Stück in der vorletzten Nacht bei Tauflieb entdeckt. Und da die schiefe Jule gewiss länger tot war, konnte ihr Ableben mit dem Verschwinden des Korbs durchaus zusammenhängen. Und mit dem Schlossermeister.
Hatte er die verkrüppelte Frau getötet? Gut möglich, aber was in aller Welt wollte er mit dem Riesenkorb?
Eine weitere Frage drängte sich auf: Wenn Tauflieb ein Filius Satani war, warum hatte er diesmal nicht versucht, durch das F und das S den Verdacht auf Freyja zu lenken?
Lapidius schüttelte den Kopf und tat die letzten Spatenstiche. Zwei Dinge j edenfalls standen unumstößlich fest: Der fehlende Obstpflückerkorb befand sich in Taufliebs Werkstatt. Und die schiefe Jule war tot.
Wenig später hatte er ihren Leib in das Erdloch gebettet und den Krückstock dazugelegt. Während er das Grab zuschaufelte, kam ihm ein Gebet über die Lippen, das eher einer Anklage glich:
»Gottvater im Himmel,
ich weiß, es steht geschrieben,
die Reichen sollen den Armen geben. Aber auch den Lahmen, den Blinden und den Verkrüppelten.
Du selbst hast dieser Frau
nicht viel gegeben.
Sie war allein, und sie war schief, und am Ende hast Du es zugelassen, dass sie brutal erschlagen wurde. Dabei war sie noch nicht einmal alt. Ich verstehe Dich nicht, Herr.
Sie war ein guter Mensch.
Unzählige andere hättest Du statt ihrer abrufen können.
Ich verstehe Dich nicht, Herr.
Und wenn Du dieser Frau zu alledem auch noch das Himmelreich
verwehren solltest, so würde ich überhaupt nichts mehr verstehen. Gib, dass sie ewigen Frieden findet. Amen. « Er legte den Spaten aus der Hand und zog seinen Mantel wieder über. Innerhalb kurzer Zeit hatte er ein zweites Mal gebetet, aber diesmal fühlte er sich danach nicht besser. Sterben war so sinnlos. Bei einer Frau wie Jule. Und erst recht bei einer jungen Frau wie Freyja.
Alles musste getan werden, damit wenigstens sie am
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