Die Hitzkammer
die Schliche gekommen war. Andererseits hatte er sich erbrochen, und die Spuren waren schwerlich zu beseitigen. Sie würden ihn ohnehin verraten. Also steckte Lapidius das Fläschchen ein und trat den Rückweg an.
Natürlich hätte er sich verlaufen, wäre nicht das Kreuz gewesen, mit dem er den Ausgang gekennzeichnet hatte. So aber fand er alsbald sein Fadenende wieder und konnte zügig ins Freie streben.
Frische, kalte Bergluft schlug ihm entgegen, als er sich an den Abstieg machte. Den gewaltigen Kugelfelsen hinter sich lassend, kletterte er zu Tal. Immer wieder blickte er sich um, doch nichts als eine verschneite, menschenleere Bergwelt umgab ihn. Als er das kleine Stück durch den Ensbacher Graben bewältigt hatte, kam er auf die Zirbelhöh mit der riesigen Buche, dem Haus und dem Grab der schiefen Jule. Von hier aus führte der Hauptweg hinunter nach Kirchrode. Lapidius atmete tief durch. Nun konnte er sich nicht mehr verirren.
Und niemand hatte ihn gesehen.
Die Augen lachten lautlos, während sie den sich entfernenden Lapidius musterten. Sie hatten ihn beobachtet, wie er aus der Höhle getreten war. Sie hatten gesehen, wie er sich umdrehte, die Gegend absuchte, ja geradezu in alle Richtungen sicherte wie ein ängstliches Wild. Lapidius, du Ahnungsloser!
Der Erste Sohn des Teufels kicherte in sich hinein. Lapidius, Lapidius! Du dünkst dich sehr gescheit, glaubst, deinem großen Ziel, mich zu besiegen, wieder ein Stück näher gekommen zu sein, nur weil du Luzifers Höhle gefunden hast. Nichts hast du! Noch immer tappst du im Dunkeln, wer dich und die Säckler tödlich bedroht. Und das wird auch so bleiben. Niemals wirst du erfahren, wer ich bin, und wenn, dann wird es zu spät sein für dich. Dann wird sich die Kraft meiner Augen mit deinem Verstand messen, und es wird sich zeigen, wer obsiegt. Meine Augen, meine Stimme, meine Hände – sie werden dich mir zu Willen machen, und wenn du dich dagegen sträubst, wird ein bittersüßer Trank nachhelfen.
Nicht jeder gehorcht mir, nicht jeder folgt meinen freundlichen Worten, das weiß ich wohl; ich habe es manches Mal erfahren, seit ich vor Jahren die geheimen Kräfte in mir entdeckte. Auch ist es so, dass ich die Erinnerungen im Menschen nicht für alle Zeiten auslöschen kann, weshalb ich die Säckler beobachten lasse, seit sie mir aus der Höhle entwischte. Von Marthe, die sich allerdings etwas widerborstig zeigt. Nun, sie wird ihre Aufgabe erfüllen, ebenso wie die Zeuginnen, sonst …
Doch du, Lapidius, bist mein. Schon jetzt. Wenn du wüsstest, dass ich es bin, den du suchst; wenn dir klar wäre, dass ich dich durchschaut habe in allem, was du tust, dann würdest du heulen und mit den Zähnen klappern und dich mir freiwillig ausliefern. Du würdest ablassen von deinen lächerlichen Bemühungen, die Säckler zu schützen!
Ich habe dich gesehen, als du auf den Gemswieser Markt eiltest und die Tote mit ihrem F und S auf der Stirn dich in höchste Bedrängnis brachte. Ich habe dich gesehen, als du dein Haus vor dem anstürmenden Pöbel verteidigen wolltest – nicht ahnend, worum es ging. Ich habe dich gesehen, als du den Totenkopf über deiner Tür entdecktest und bei seinem Anblick fast in Ohnmacht gefallen wärst. Ich habe dich gesehen, als du durch Kirchrode irrtest, um nach einem Ziegenbock ohne Hörner zu suchen – und ich fand es höchst erheiternd. Ich habe dich gesehen, als du einen Alambic ausleihen wolltest und unverrichteter Dinge wieder abziehen musstest. Ich habe dich viele Male gesehen.
Aber du hast mich nicht gesehen.
Du bist klug, Lapidius, trotz allem. Deshalb weiß ich, wir werden einander spätestens in vier Tagen begegnen. Nachts. In der Sabbathöhle, die wir, die Söhne des Teufels, Luzifers Höhle nennen. Es wird die Stunde deines Verderbens sein. Denn es ist beschlossen, dass du stirbst. Ebenso wie Freyja Säckler, die auf dem Scheiterhaufen gerichtet werden wird. Viele leben, aber viele müssen auch sterben. Und manchmal ist das Sterben sogar unnötig – wie bei der schiefen Jule. Ich danke dir, Lapidius, dass du ihr ein Grab geschaufelt und damit alle Spuren beseitigt hast.
Der Erste Sohn des Teufels sah mit Befriedigung, dass Lapidius langsam aus seinem Gesichtskreis verschwand. Nun konnte er aus seinem Versteck hervorkommen und selbst die Höhle aufsuchen, um das große, das endgültige Ritual vorzubereiten. Nochmals kicherte er wild.
Manchmal glaubte er wirklich, der Leibhaftige zu sein.
Als Lapidius sein Haus
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