Die Hitzkammer
Aber es war geschehen. Jedes Mal hatte es scheußlich wehgetan und war keineswegs so schön gewesen, wie immer behauptet wurde. Und die Burschen waren, kaum dass sie ihre Lust gehabt hatten, wieder verschwunden.
Ganz anders dagegen Lapidius. Er war ein Mann des Wissens und der feinen Manieren. Und er sah gut aus. Allerdings war er schon alt, sehr alt.
Eines ihrer Augen fing an zu jucken. Sie kniff es zusammen und verspürte einen heftigen Schmerz. Er rührte von einer Wimper her, die sie stach. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, das Härchen zu entfernen. Doch das unangenehme Gefühl wollte nicht weichen. Abermals forschte sie nach und bemerkte, dass ihre Augenlider völlig haarlos waren. Alle Wimpern waren ihr ausgefallen. Und die letzte hatte sie gestochen – wie zum Hohn. Hastig tastete sie nach ihren Brauen und fand heraus, dass auch diese nackt waren. Sie kämpfte mit den Tränen. Erst hatte sie ihr langes blondes Haar verloren und nun auch noch Brauen und Wimpern.
Sie begann ihr gesamtes Gesicht zu untersuchen, befühlte ihre Haut, spürte die fast verheilten Syphilispusteln, strich über die Geschwüre an den Lippen und im Mundraum, rüttelte an den Zähnen – und hielt plötzlich eines ihrer Beißwerkzeuge zwischen den Fingern. Sie wunderte sich, dass sie kaum einen Schmerz verspürt hatte, und vermutete, es müsse daher kommen, dass ihr Zahnfleisch ohnehin immerfort brannte. Wieder fiel ihr Lapidius ein. Er hatte ihre Haare aufgehoben und ihre Zähne. Wozu? Sie würde ohnehin niemals wieder so aussehen wie früher. Am besten, sie nähme sich das Leben – ein Gedanke, mit dem sie in ihrer Verzweiflung schon häufiger gespielt hatte, der aber mittlerweile nicht mehr durchführbar war. Ihr fehlte dazu einfach die Kraft. Eine Flucht hinauf ins Dachgebälk, wie sie ihr noch vor wenigen Tagen geglückt war, würde ihr keinesfalls mehr möglich sein. So schwach und hilflos und hässlich, wie sie war …Sie fuhr zusammen, denn direkt neben ihr drehte sich der Schlüssel im Schloss, und die Türklappe flog auf.
»Haste den Becher runtergeschmissen?«, fragte Marthe. Freyja schwieg. Das helle Licht blendete sie.
»Na, macht nix. Essis wieder so weit. Der Herr sacht, du sollst versorcht wern.« Die Magd stellte einen Korb ab, in dem allerlei Arzneien untergebracht waren, darunter Kalkpulver und Quecksilbersalbe. »Is schon ne komische Sache mit deiner Krankheit. Hat die nichn Namen?«
Freyja schwieg noch immer. Sie hatte Lapidius versprochen, nicht über ihre Syphilis zu reden, und daran hielt sie sich.
Marthe schob die Truhe beiseite, um besser arbeiten zu können. »Zieh mal die Beine an. So isses gut. Nu zerr ich dich raus … das kennste j a schon. Ja, sooo … Haste dichtgehalten heut Nacht? … Gut. Dann mussich das Stroh nich neu machen. Ich setz dich aufe Truhe.«
Freyja ließ alles mit sich geschehen. Sie genoss die plötzliche Freiheit, den Platz, die Möglichkeit, Arme und Beine in jede Richtung ausstrecken zu können.
Marthe fragte: »Wülste Wasser? Ich hab was mit. Essis vom Böttgerbrunnen, weil der unsre vergiftet is. Ach … das hättich vielleicht nich sagen solln. Aber isja egal. Erfährstes ja doch.«
Freyja trank in großen Zügen aus dem Becher, den die Magd ihr an die Lippen hielt. »Vergiftet?«, fragte sie zurück.
»Ja, essis nich zu fassen.« Marthe rieb mit einem Lappen die verbliebenen Quecksilberreste von Freyjas Haut ab. »Sach mal, irgendwas is doch faul mit dem Leiden, dasde hast. Da steckt doch was hinter? Alle Welt redet drüber, auch Traute Schott, das is ne Freundin von mir, un keiner weiß nich, was los is. Un die Koechlin un die Drusweiler sin dauernd bei mir am Drücker, aber ich sach nix … weiß ja auch nix.«
»Nein«, sagte Freyj a, die Mühe hatte, sich aufrecht zu halten.
»Sach mal, kanns sein, dass die beiden gestern hier warn? Hier oben bei dir?«
Freyja schwieg. Die Bilder des vergangenen Tages kamen wieder hoch, und sie sah die beiden Zeuginnen vor sich, wie sie abwechselnd durch die Türklappe zu ihr sprachen.
»Bitte sachs mir.« Die Magd begann Freyja mit dem Unguentum einzureihen. »Bin nämlichn bisschen eingenickt nachmittachs, braucht keiner nich zu wissen, erst recht nich der Herr, un wie ich aufwach, seh ich die beiden inner Küche bei mir rumstehn. Un eh ich noch was sagen kann, löchernse mich schon, was nu mit dem Leiden von dir wär un was du so erzählen tätst. Un wie ich sach, ich wüsst nix, wernse auf einmal richtich pampich,
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