Die Hitzkammer
ihren Arm nach oben und versuchte, die Türöffnung abzudecken, aber es gelang nicht. Ihre Hand war zu klein.
»Was soll denn das! Ich ahne, was passiert ist. Glaub mir, es ist halb so schlimm. Marthe wird es nachher wegmachen. Im Augenblick allerdings ist sie bei ihrer Mutter. Die alte Frau hat das Zipperlein in den Händen.«
Sie hörte, wie er sich am Schloss zu schaffen machte. Dann sprang die Türklappe auf. Ein Schwall frischer Luft drang in die Hitzkammer und machte sie frösteln. Ihre Blöße! Rasch deckte sie ihre Brüste mit den Haaren ab.
»Gib mir deine Hand.« Er nahm ihre Linke und fühlte den Puls. »Hm, nun ja. Die Krankheit wirkt sich auch auf den Herzschlag aus. Das ist ganz normal.«
»Bei Euch ist immer alles ganz normal. Wenn ich krepier, ists auch normal, wie?« »Nein, natürlich nicht«, kam es von draußen. »Das Quecksilber-Unguentum muss erneuert werden. Dein Daumennagel sieht im Übrigen schon wieder gut aus. Und der andere? Lass mal sehen. Ja, auch der. Glaube mir, ich unternehme alles, damit du gesund wirst. Und ich gebe mir sehr viel Mühe, die Verleumdungen gegen dich zu entkräften. Da ist es selbstverständlich, dass auch du etwas dazu beiträgst.«
Sie fragte sich, worauf er hinauswollte.
Er sperrte die Tür wieder zu. Sie wollte sich dagegen wehren, unterließ es aber, weil sie wusste, dass es zwecklos war. Er zog den Schlüssel ab. »Wir haben über die Koechlin und die Drusweiler gesprochen und darüber, dass sie ganz offensichtlich die Anschuldigungen gegen dich frei erfunden haben. Auch über Gunda Löbesam, die Tote vom Marktplatz, haben wir geredet. Was ich dir jedoch nicht erzählt habe, ist, dass sie getötet wurde und der Mörder ihr zwei Buchstaben in die Stirn geschnitten hat. Ein F und ein S. Buchstaben, die nicht Gunda Löbesam bedeuten können. Aber Freyja Säckler. Davon jedenfalls ist der Pöbel überzeugt. Er denkt, du wärst als Hexe durch die Lüfte geritten und hättest Gunda getötet. Kannst du mir so weit folgen?«
»Ja.« Sie spürte, wie sich ein Ring um ihre Brust legte. Ein Ring aus Angst.
»Natürlich ist das Unsinn. Aber es verstärkt meine Annahme, dass jemandem sehr daran gelegen ist, dich unschädlich zu machen. Höchstwahrscheinlich ist er es auch, der mit der Koechlin und der Drusweiler unter einer Decke steckt und sie beauftragt hat, die Anschuldigungen gegen dich zu erheben. Dieser Jemand – der Mörder von Gunda Löbesam – scheint alles daranzusetzen, dich als Hexe brennen zu sehen. Das wiederum lässt den Schluss zu, dass er in irgendeiner Verbindung zu dir steht. Vielleicht fühlt er sich sogar bedroht von dir. Alles andere wäre unlogisch. Er muss dich kennen. Und du ihn. Überlege einmal, wer könnte das sein?«
Freyja spürte, wie der Ring sich noch mehr verengte. Was hatte Lapidius gesagt? Sie sollte mit einem Mörder in Verbindung stehen? Etwas so Närrisches hatte sie selten gehört. Natürlich kannte sie zahllose Menschen, in vielen Dörfern und Städten, das brachte ihr Gewerbe mit sich. Aber ein Meuchler war nicht darunter, da war sie sicher. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für Gesichter – und für die Namen, die sich damit verbanden. Wenn es darauf ankam, konnte sie alle ihre Kunden hersagen und deren Aussehen bis ins Kleinste beschreiben. Woran das lag, wusste sie nicht. Vielleicht daran, dass sie den Leuten in die Augen sah. Die Augen bestimmten das Gesicht. Jede Falte, jeden Winkel, j ede Eigentümlichkeit. Freyj a fühlte, wie der Druck auf ihrer Brust nachließ. Doch da, plötzlich, fiel ihr der Nebelschleier wieder ein, der einen Teil ihrer jüngsten Erinnerung verdeckte, und etwas Seltsames geschah: Ein Augenpaar tauchte aus den Tiefen ihres Gedächtnisses empor, näherte sich ihr und blickte sie unverwandt an. Es waren nur Augen, zwei farblose Augen ohne Gesicht, dazu eine Stimme von freundlicher, zwingender Kraft. Und Hände. Sprechende Hände. Welch eine Erscheinung! Sie wollte mehr sehen, doch schon senkte sich der Schleier wieder.
Der Name. Wie war der Name zu diesem Augenpaar? Freyja musste sich eingestehen, dass sie ihn nicht wusste. Aber war das wichtig? Lapidius hatte nach einem Meuchler gefragt, nach einem Menschen aus Fleisch und Blut – und nicht nach einer Erscheinung. »Ich kenn keinen Mörder, und ich glaub nicht, dass einer mich kennt.«
»Bist du ganz sicher? Denk noch einmal nach.«
»Ganz sicher.«
»Nun, ich hatte es befürchtet.« Lapidius’ Gesicht entfernte sich von der Türklappe.
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