Die Hitzkammer
gordischer Knoten. Ihn zu durchtrennen, reichte die Schärfe seines Verstands nicht aus. Sein Wissen war zu gering. Er musste Thesen als Tatsachen voraussetzen, sonst kam er überhaupt nicht weiter. Dazu gehörte die Unterstellung, dass die Koechlin und die Drusweiler mit dem Mörder in Verbindung standen. Der Weg zum Mörder führte also über die Zeuginnen. Andererseits: Er war schon bei ihnen gewesen, und sie hatten ihn rausgeworfen wie einen Knecht.
Lapidius schüttelte den Kopf. Er hatte ein Gefühl, als schwirrten darin tausend Fliegen. Er kam nicht weiter. Leise stand er auf, schaute hinter den losen Ziegel, wo er den Schlüssel zur Hitzkammer vorfand, und strebte der Stiege zu, um nach Freyja zu sehen. Und wie bei allen Dingen im Leben, die man besonders gut machen will, gehen sie gründlich daneben: Mit größter Vorsicht setzte er den Fuß auf die unterste Stufe, doch kaum dass er sie berührt hatte, quietschte sie so laut auf wie ein ganzer Wurf Ferkel.
»Hooach! GottimHimmel!« Marthe fuhr hoch, als säße der Leibhaftige in ihr. Der Brotlaib fiel zu Boden und kullerte unter den Tisch. »Ihr seids, Herr! Ja, woher kommt Ihr … Habt mich schons zweite Mal heut zu Tode erschreckt! Hättet mich doch wecken können!« Um Fassung ringend, musste sie sich wieder setzen.
Lapidius ersparte sich die Erklärung, dass er den Versuch dazu unternommen hatte, und eilte nun festen Schrittes in den Oberstock. Auf ein Quietschen mehr oder weniger kam es nicht mehr an. »Freyja! Freyja?«
»Ja.« Ihre Antwort kam leise und glich eher einem Stöhnen.
»Wie geht es dir?« Er entzündete eine Kerze und stellte sie vor die Türklappe.
»Ich hab Durst.«
»Hat Marthe dir nichts gegeben?«
»Doch, aber …«
»Schon gut. Warte, ich hole Wasser.« Er dachte an die eigenen Qualen, die er bei seiner Wanderung durchlitten hatte, und hastete die Stiege wieder hinab. Marthe saß noch immer am Feuer. Sie hatte sich so weit gefangen, dass sie schon wieder in der Lage war, von seinem Essen zu kosten. Er kümmerte sich nicht darum, sondern lief an ihr vorbei in den hinteren Trakt des Hauses und nach draußen zum Hofbrunnen. Der große hölzerne Eimer stand neben der Winde. Er ließ ihn hinab und wunderte sich, wie viel Kraft vonnöten war, das Gefäß wieder an die Oberfläche zu kurbeln. Bevor er den Eimer in die Küche trug, trank er selbst in langen Zügen.
Wenig später war er wieder bei Freyja. Er schloss die Türklappe auf und hockte sich vor sie hin. Ein Schwall stickigheißer, verbrauchter Luft schlug ihm entgegen. Gern hätte er sie jetzt bei der Hand genommen und an die frische Luft geführt, aber die ehernen Behandlungsgesetze ließen das nicht zu. Er wusste es von sich selbst. Conradus Magnus war die Gutmütigkeit in Person gewesen, aber jedes Mal, wenn Lapidius gefleht hatte, ihn aus der Hitzkammer zu lassen, hatte er sich unnachgiebig wie ein Fels gezeigt.
Freyja blickte ihn hohlwangig an. Von der Verstocktheit am Morgen war nichts mehr in ihren Augen zu lesen. Er schob die Hand unter ihren Kopf, damit er den Becher an ihre Lippen setzen konnte. Sie trank gierig.
»Du bist sehr tapfer. Jetzt liegt schon der sechste Behandlungstag hinter dir«, sagte Lapidius. Er bettete ihren Kopf wieder auf die Matratze und schloss die Tür. Dann rückte er die Truhe heran, um sich darauf zu setzen. »Aber auch ich war nicht untätig. Ich weiß j etzt, dass die Tote Gunda Löbesam heißt. Sagt dir der Name etwas?«
»Nein.«
»Schade.« Lapidius sagte sich, dass Freyjas Antwort logisch war, denn sie hatte j a versichert, den Namen der Toten nicht zu kennen. Er betrachtete sie durch die schmale Klappenöffnung und bemerkte, wie ihr infolge der Flüssigkeitsaufnahme der Schweiß ausbrach. An vielen Stellen traten kleine Perlen durch die Quecksilberschmiere hervor. Er sah es mit Freude. Vom starken Schwitzen hing alles ab. Es war das A und O bei der Syphilisbehandlung.
»Ich bin zittrig. Den ganzen Tag schon.«
»Zittrig?« Ihm war bekannt, dass der Tremor mit der Kur einherging; Zittern und Zucken im Körper waren nichts Ungewöhnliches, sie hatten ihre Ursache in der Wirkung des Hydrargyriums. Beachtlich war nur, dass die Symptome so früh eingesetzt hatten. Aber jeder Patient mochte da anders reagieren. »Das Zittern ist eine normale Reaktion auf das Quecksilber. Es zeigt an, dass in deinem Körper etwas vorgeht.«
»Ja.«
»Nun«, er wusste nicht recht, was er noch sagen sollte, »hoffen wir, dass du weiter so gut auf
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