Die Hitzkammer
Zittern, das anschließend durch ihren Körper lief, war dagegen wie ein Labsal gewesen. Denn Zittern verursachte keine Pein. Es war nur unangenehm. Auch wenn es ihr zeigte, dass sie ihre eigenen Gliedmaßen nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Ob es schon Tag war? Jeden Morgen fragte sie sich das, obwohl es in ihrer Situation einerlei war. Das Dämmerlicht unterschied sich kaum von j enem einer klaren Mondnacht. Nur die Klappenöffnung zu ihrer Linken spendete etwas Helligkeit. Blickte sie nach oben, sah sie in tiefe Schwärze, die erst nach einer Zeit der Gewöhnung Konturen annahm. Dann zeichneten sich ein paar Sparren ab – mehr erahnbar als erkennbar –, ein Längsbalken direkt über ihr, eine winzige Lichtritze zwischen den Dachschindeln.
Weil sie so wenig sah, achtete sie umso mehr auf das, was sie hörte. Niemals zuvor hatte sie Geräusche so intensiv erlebt: die Stimmen von Lapidius und Marthe, das Klirren von Glas im Raum unter ihr, das Zischen des Athanors, das Klappern von Töpfen in der Küche. Gelächter und Geschwätz, das von der Böttgergasse heraufdrang. Hammerschläge, singende Bohrer, kreischende Sägen aus Taufliebs Werkstatt. Es waren Laute, mit denen sich die Stunden des Tages verbanden. Stunden, die quälend langsam dahinschlichen. Und immer der Durst. Er kam von der Hitze, die in der Kammer herrschte. Sie glaubte, dass die Hitze an allem schuld war. Sie trieb ihr den bohrenden Kopfschmerz ins Hirn, brannte ihr die Gelenke aus, lähmte ihre Gedanken.
Heute war der siebte Tag der Kur, denn gestern am Sonntag war der sechste gewesen. Lapidius hatte sie auf das Geläut der Glocken aufmerksam gemacht. Gottesdienst. St. Gabriel. Er ging nicht in die Kirche, hatte er gesagt. Genau wie sie. Und genau wie sie hatte er die Franzosenkrankheit gehabt, die er Syphilis nannte. Vor neun Jahren im Spanischen war es gewesen. Da hatte er sich die Seuche geholt. Er musste also bei einer Frau gelegen haben. Bei einer Spanierin wahrscheinlich. Freyja hatte keine Vorstellung davon, wie Spanierinnen aussahen, aber sie glaubte, dass sie schön waren.
Ob Lapidius sie schön fand? Jetzt sicher nicht mehr. Gleich am ersten Tag hatte er sie in dem großen Raum mit den gläsernen Tiergefäßen gefragt, mit wem sie in letzter Zeit zusammen gewesen war. Er hatte sehr ernst dabei dreingeblickt. Und deutlich gemacht, wie wichtig es war, denj enigen zu kennen. Und auch die anderen, bei denen man gelegen hatte. Damit alle behandelt werden konnten. So wie sie.
Die Schwierigkeit war nur, dass sie sich kaum erinnern konnte. Überhaupt war ihr, als hätten sich Nebelschleier über Teile ihres Gedächtnisses gelegt. Zwar glaubte sie, ab und zu Bilder aufblitzen zu sehen, doch jedes Mal, wenn ihr Verstand sie greifen wollte, waren sie wieder verschwunden.
Lapidius. Ein wenig besser kannte sie ihn mittlerweile. Ihr war nicht verborgen geblieben, wie er reagiert hatte, als sie ihm tief in die Augen sah: mit Unsicherheit. In diesem Moment hatte sie sich ganz als Frau gefühlt – und gleichzeitig so hilflos und hässlich wie niemals zuvor. Die verdammte Hitzkammer!
Ein heftiger Schmerz zog quer durch ihren Leib. Neue Koliken! Sie biss die Zähne zusammen, um sich der Anfälle zu erwehren. Sie kamen in Wellen, wieder und wieder, nagten an ihren Kräften, verbissen sich in ihrem Gedärm, doch nach einiger Zeit wurden sie schwächer und ebbten ab. Für einen Augenblick entspannte sie sich, gab nach, und da war es zu spät. Ein heißer Strahl übel riechender Wässrigkeit schoss ihr zwischen den Gesäßbacken hervor. Sie lag in ihrem eigenen Schmutz und kämpfte mit den Tränen. Sie wollte nicht weinen. Sie war stark! Stark! Stark! Aber schon hörte sie sich selber schluchzen. Niemand sollte sie so sehen. Niemand! Nur Marthe. Die konnte sie sauber machen. Ja, Marthe!
»Wie geht es dir heute Morgen?«, fragte Lapidius. Seine Stimme klang müde.
Freyja erschrak. Am liebsten wäre sie klaftertief im Boden versunken. Oder fortgelaufen. Aber das war unmöglich. Sie konnte nicht fort. Sie war eingeschlossen wie ein Stück Vieh. Und derj enige, dem sie das zu verdanken hatte, stand da draußen und fragte, wie es ihr ging. »Lasst mich in Ruh! «
»Nanu, warum so kratzbürstig? Ich habe dir doch nichts getan.« Lapidius’ Kopf schob sich näher an die Türöffnung. Freyja erblickte ein übernächtigtes Gesicht. Sie zog es vor, nicht zu antworten. Doch dann sah sie, wie seine Nase sich kräuselte. Er hatte den Geruch bemerkt! Sie zwängte
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