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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Quecksilberschmiere. Dann betrachtete er ihren Handrücken. Er nahm ein Stück Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, zog es hoch und ließ wieder los. Es dauerte geraume Weile, bis die Falte verschwunden war – ein klares Zeichen für Dehydration. Freyja brauchte Wasser. »Hat Marthe dir zu trinken gegeben?«
    »Ja.«
    »Ich werde dir noch mehr geben. Du vertrocknest sonst. Hast du Schmerzen?«
    Sie schloss die Augen.
    »Hast du Schmerzen?«
    »Ja.«
    »Kannst du es noch aushalten?«
    »J… ja.«
    Aus ihrer Einsilbigkeit und der Art, wie sie antwortete, wurde ihm schlagartig klar: Das Maß dessen, was sie ertragen konnte, war voll. Er kannte den Zustand, wenn die Torturen sich im Körper summierten, wenn sie von überall herkamen, vom Kopf, vom Leib, von sämtlichen Gelenken, und sich vereinigten zu einer einzigen überwältigenden Pein. Er unterließ es, weitere Fragen zu stellen, eilte hinunter und kam alsbald wieder zurück, den üblichen Becher Brunnenwasser in der Hand und ein kleines braunes Fläschchen dazu. Er ließ sie die Hälfte des Wassers trinken, bevor er zehn Tropfen auf einen Löffel gab. »Laudanum«, sagte er. »Es ist für die Fälle, in denen du glaubst, es ginge nicht mehr.«
    »Ja«, sagte sie abermals und nahm die Tropfen.
    Er flößte ihr den Rest des Wassers ein, um den schlechten Geschmack zu vertreiben, und redete ihr dabei gut zu. Dann schob er sich die Truhe heran und setzte sich.
    Er wartete. Ein Arzt hatte ihm einmal gesagt, die Wirkung eines guten Laudanums setze spätestens ein, nachdem man bis dreihundert gezählt habe. Er hatte gefragt, was passiere, wenn das nicht der Fall sei, und der Arzt hatte nur mit den Schultern gezuckt.
    Lapidius war bei zweihundert angekommen, da sah er, dass Freyjas Gesicht wieder etwas Farbe bekam. Ihr Körper entspannte sich. Er machte die Faltenprobe an der Hand und sah, dass auch die Symptome der Austrocknung nachgelassen hatten. »Geht es dir besser?«, fragte er hoffnungsvoll.
    Sie sagte nichts, aber ihre regelmäßigen Atemzüge waren Antwort genug. Sie war eingeschlafen, ohne ein weiteres Wort.
    Erleichtert lehnte er sich zurück. Er wusste, dass nichts auf der Welt den Körper mehr erschöpfte als großer Schmerz. »Schlafe weiter«, murmelte er, »schlafe weiter.«
    Leise schloss er die Türklappe ab und schlich hinunter in sein Laboratorium.
    Variatio VI , die siebte Versuchsanordnung – der kleine Alambic des Apothekers Veith hatte sie endlich möglich gemacht. Sorgfältig übertrug Lapidius die Ergebnisse des Experiments in sein Büchlein. Sie waren nur ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zum Großen Werk, aber Geduld war die hervorragendste Tugend eines j eden Alchemisten.
    Das Wissen darum, dass Freyja keine Schmerzen mehr litt, hatte ihn bei der Arbeit beflügelt. Dennoch war der Nachmittag viel zu schnell vergangen. Er schlug das Büchlein zu, verstaute die Schreibfedern und entschied, sich für heute von der Wissenschaft zu verabschieden. Ob Freyja noch schlief? Auch er spürte Müdigkeit. Er beschloss, sich einen Augenblick hinzulegen. Ein Gespräch mit ihr würde auch vom Bett aus möglich sein.
    »Freyja! Freyja, hörst du mich?«, rief er hinauf, als er vor der Sprechöffnung eine bequeme Lage eingenommen hatte.
    »Ja«, kam es nach einer Weile von oben.
    Er fühlte Freude. Ihre Stimme klang nicht mehr so klein und zerbrochen wie noch Stunden zuvor. »Was machen die Schmerzen?«
    »Besser. Ich hab geschlafen. Die braunen Tropfen sind gut. Ich möcht Licht.«
    »Warte.« Lapidius seufzte insgeheim. So sehr er die Besserung begrüßte, so wenig Lust verspürte er, schon wieder aufzustehen. Dennoch erhob er sich, nahm Stahl und Feuerstein, um die Öllampe im Oberstock entzünden zu können, und kletterte die Stiege empor. »Ich wusste gar nicht, dass es bei dir schon so dunkel ist«, rief er Freyja zu. »Die Lampe wird gleich brennen.« Er trat ans Fenster, denn er beabsichtigte, das Straßenlicht bei seiner Tätigkeit auszunutzen, und verhielt mitten in der Bewegung. Zwei Gestalten verließen gerade sein Haus. Sie riefen irgendetwas zurück und erhoben dabei den Finger. Das galt sicher Marthe. Dann fiel das Licht der Außenlaterne voll auf ihre Gesichter.
    Es waren Auguste Koechlin und Maria Drusweiler.
    Lapidius brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er da gesehen hatte. Was machten die beiden Denunziantinnen in seinem Haus? Was hatten sie mit Marthe zu schaffen? Er zwang sich zur Ruhe und sorgte zunächst dafür, dass

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