Die Hitzkammer
konnten einfach wieder eingeräumt werden. Halb beruhigt wanderte sein Blick nach hinten ins Laboratorium, und ein Schrei entrang sich seinen Lippen. Was er sah, konnte nicht sein. Durfte nicht sein! Ein Chaos tat sich vor ihm auf, ein Tohuwabohu aus Scherben, Glas und Splittern – die kümmerlichen Reste seiner Versuchsanordnungen! Der Experimentiertisch lag auf der Seite. Borde und Regale waren umgefallen. Einzig sein Lieblingsstuhl schien heil geblieben zu sein. Lapidius verspürte den Drang, sich zu setzen, doch siedend heiß fiel ihm Freyj a ein. Wo war sie? Hatte sie sich retten können?
Er hastete die Stiege hinauf. Im Oberstock bot sich dasselbe Bild: eine einzige Wüstenei aus umgestoßenen Möbeln, herausgefallenen Schubladen und herumliegender Habe. Die Türklappe stand offen, und die Hitzkammer war – leer.
Er eilte empor ins Dachgeschoss, sah auch hier in jeden Winkel und musste schließlich einsehen, dass seine Suche sinnlos war. Lapidius konnte es nicht fassen. Wo war Freyja? Hatte sie fliehen können? Oder hatte der Pöbel sie aus dem Haus gezerrt, während er ohnmächtig war? Die zweite Möglichkeit war die wahrscheinlichere. Man hatte sie entführt und sicherlich schon zu Tode gestochen.
Verzweifelt wankte er die Treppe hinunter und fiel auf seinen Lieblingsstuhl. Was war nur in die Menge gefahren? Sie wusste doch seit langem, dass Freyja als Hexe angeklagt war. Wieso dieser plötzliche Ausbruch? Auch dass sie bei ihm wohnte, war sattsam bekannt. Die Leute zerrissen sich zwar das Maul darüber, aber das taten sie immer, und es erklärte noch lange nicht, warum man ihm die Tür eingerannt hatte.
Ein lautes Schluchzen unterbrach seine Gedanken. Marthe stand in der Küchentür, völlig aufgelöst. »Wie isses nur möchlich, Herr? Wassis nur los? Um Haaresbreite hättense mich erwischt. Wo ich doch nie nix getan hab! Nix, gar nix! Bin hinten durch Taufliebs Hof un hab mich dünnegemacht, ogottogott! Abgemurkst wiene Sau hättense mich, wiene Sau!« Die Magd schlug die Hände vors Gesicht.
»Ja, Marthe.« Lapidius war noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er eine gescheite Antwort hätte geben können. »Ja, Marthe«, wiederholte er abwesend und sah, wie eine massige Gestalt sich neben der Magd in den Raum schob. Gorm.
»Is Freyja gut?«, fragte der Koloss.
Lapidius war verblüfft. Was wollte Taufliebs Hilfsmann schon wieder? Es war bereits das dritte Mal, dass er sich ohne besonderen Grund sehen ließ.
»Is Freyja gut?«
»Ich hoffe, es geht ihr gut.« Lapidius durfte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn die Menge feststellte, dass Freyja die Franzosenkrankheit hatte. Die Symptome waren so weit fortgeschritten, dass jeder halbwegs Gebildete sie erkennen konnte. Jemand wie der Pfarrer. Oder Krabiehl. Oder Veith, der Apotheker. Lapidius umklammerte die Armlehnen so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er musste sie finden, bevor ein Unglück geschah! Aber wo sollte er nach ihr suchen? Kirchrode war groß. Und selbst wenn es ihm gelang, sie aufzuspüren – es war dann mit Sicherheit zu spät.
»Will nach ihr kucken.«
»Nein! Sie schläft gerade.« Aus irgendeinem Grund verschwieg Lapidius, dass Freyj a fort war. Vielleicht, weil er es nicht wahrhaben wollte. »Am besten, du gehst jetzt. Es ist mitten am Tag, und ich kann mir nicht denken, dass dein Meister dir freigegeben hat.«
»Hm, hm.« Der Hilfsmann grunzte. »Hm.« Man sah förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Endlich schien er den Sinn von Lapidius’ Worten verstanden zu haben. Er drehte ab und verschwand durch die Küche in den Hinterhof, von wo aus er zwischen den Johannisbeersträuchern hindurch zu Taufliebs Hof gelangen konnte.
Lapidius befühlte sein Jochbein.
Marthe meldete sich: »Isses schlimm, Herr? Sollich was machen? Oder sollich erst zu Freyja rauf?«
»Nein.« Lapidius seufzte schwer. »Es ist sowieso alles egal. Kehre als Erstes die Scherben hier im Laboratorium auf. Ich kümmere mich dann um die Gesteinsproben in der Diele. Sie müssen nach einem Ordnungsprinzip eingeräumt werden, das du nicht kennst. Anschließend rücke ich die Kiste wieder vor die Tür, damit nicht jeder ungebeten hereinkommt.«
»Ja, Herr.«
»Wenn du mit den Scherben fertig bist, bereitest du uns eine Stärkung zu.«
»Ja, Herr, machich.«
Er verfiel ins Grübeln, während sie mit Kehrblech und Besen um ihn herumwuselte. Nach kurzer Zeit wurde es ihm zu unruhig. Er stand auf, ging in die
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