Die Hitzkammer
schoss ein Lichtschimmer durch den Ort des Rituals. Ein Blitz! Und das Opfer unter ihm jubelte:
»Ich freue mich auf den Donner!«
ZEHNTER BEHANDLUNGSTAG
Tirili … tirila … im Querschlag isses wunderbaaa …« Wieder einmal hatte der alte Holm ausdauernd in seiner Stammwirtschaft gezecht, so lange, bis auch dem gutmütigen Pankraz der Geduldsfaden gerissen war und er den Saufbold vor die Tür gesetzt hatte. Diesmal ohne eine Kanne Bier.
Der Morgen graute. »Tirili … tirila …« Holm, der nach dem Rausschmiss die Schellengasse zur Stadt hinaus hatte gehen wollen, fand sich unvermittelt im Kreuzhof wieder. »Nanu, hupps«, brummte er, sich an einer Hausecke festklammernd, »so be… besoffen bin ich do… doch gar nich! Hier mu… muss die Schesche… Seh… die Schellengasse sein, verdammich!« Verbissenen Blickes strebte er weiter in die falsche Richtung und landete alsbald in der Böttgergasse. Hier lief er ein paar Schritte, verlor das Gleichgewicht und stützte sich abermals an einer Hauswand ab. Langsam dämmerte seinem vernebelten Hirn, dass er völlig falsch war. »Hab mich ver… verlaufen.« Ratlos blickte er sich um, eine Bewegung, die er besser nicht gemacht hätte, denn sie brachte ihn so ins Schwanken, dass er unsanft auf dem Hosenboden landete. »Ojemine!«
Holm schüttelte den Kopf, als könne er dadurch den Alkohol aus den Ohren befördern, und sah nach oben – direkt in einen Frauenkopf. Er blinzelte und grunzte, denn dort, wo andere Frauen einen Körper hatten, hatte diese eine Tür. Eine Tür? Hoho! Er schüttelte sich abermals und wagte einen zweiten Blick. Und was er diesmal sah, war so grauenvoll, dass er zurückzuckte und mit dem Hinterkopf auf den Boden schlug.
Eine gnädige Ohnmacht umfing ihn. Lapidius befand sich auf dem Gemswieser Markt, der an diesem Tage so voll war, dass es ihm fast die Luft abschnürte. Überall waren Stände aufgebaut, auf denen Quecksilbersalbe und Lindenblütenpillen feilgeboten wurden. Ein Meer von Salben und Pillen! Und mittendrin stand Veith und hantierte mit Schneidebrett, Former und Beschichter. Der Apotheker hier?
Beim nächsten Karren begegnete Lapidius dem Pharmazeuten schon wieder. Nanu? Es konnte keine zwei Veiths geben. Und doch war es so. Der zweite hielt Büschel von Bilsenkraut in der Hand und rief dazu immerfort: »Hyoscyamus niger, Hyoscyamus niger!« Der dritte Veith schwenkte den kleinen Alambic in der Hand und deutete damit auf Lapidius. Seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Hass. »Das ist Freyja Säckler, die Hexe!«, schrie er, »die Hexe, die Hexe!«
Lapidius erstarrte, wollte das Missverständnis aufklären, doch schon giftete der Apotheker weiter: »Sie hat die Syphilis, ihr Leute, die Lustseuche, die Geschlechtspest, die Franzosenkrankheit! Wir müssen uns schützen!« Vor Lapidius’ entgeisterten Augen zog er sich den Alambic über den Kopf und blickte mit seltsam hervortretenden Froschaugen durch das Glas. »Wir müssen uns schützen vor der Hexe!«, schrie er abermals, und die anderen Markthändler fielen mit ein. Ihre Stimmen klangen seltsam entfernt, was sicher an dem Alambic lag, denn nun hatten alle einen solchen über den Kopf gezogen und schrien aus Leibeskräften: »Hexe, Hexe, Hexe!«
Lapidius versuchte, sich zu behaupten, rief »Nein, nein, nein!« und wurde davon wach. Er war schweißgebadet und fühlte dennoch Erleichterung. Die Schreckensbilder waren nur ein Traum gewesen. Er befand sich im Bett und nicht auf dem Markt. Und Veith, der Apotheker, konnte nicht wissen, dass Freyja von der Syphilis geschlagen war. Allerdings … Er horchte. Das Rufen war noch immer da. »Hexe, Hexe, Hexe!«, hallte es von der Böttgergasse herein, und es war zweifellos kein Traum.
Er sprang aus dem Bett, stürzte ans Dielenfenster und prallte zurück. Dutzende von Menschen drängten sich in der engen Gasse und riefen immer wieder das furchtbare, brandmarkende Wort. Lapidius blickte in Gesichter, die nichts Menschliches mehr hatten, sah mordlüsterne Augen und ausgereckte Arme, die auf sein Haus wiesen, erkannte Münder, die schwarzen Höhlen glichen, und fühlte Angst. Nackte Angst. »Hexe, Hexe, Hexe!«
Vereinzelte Stimmen schrien jetzt etwas anderes: »Stecht die Hexe, stecht sie!« Der Ruf pflanzte sich fort. »Stecht sie! Holt sie raus und stecht sie! Holt sie raus und stecht sie …!«
Er hastete zurück in sein Laboratorium, wo die schwere Kiste mit den Gesteinsproben stand, schob sie unter Aufbietung aller Kräfte in
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