Die Hitzkammer
man dir sogar einen berauschenden Trank verabreicht, der die Wirkung der Kristallkugel noch verstärkte? Einen Trank aus Bilsenkraut? Vielleicht, vielleicht, vielleicht … Es ist so vieles möglich, und du solltest dir keine Vorwürfe machen.« Sie antwortete nicht, und an der Art, wie sie atmete, erkannte er, dass sie wieder schlief.
Sie sollte weiter ruhen. Um nichts in der Welt hätte er sie nochmals geweckt. Er drückte die Türklappe zu und schloss ab. Dann löschte er die Öllampe und gab sich, in der Dunkelheit grübelnd, seinen Gedanken hin. »Stein, Gesicht, Zahn, Zähne, scharf …« Diese Worte murmelte er immer wieder vor sich hin. Ein steinernes Gesicht und steinerne, scharfe, spitze Zähne – das war es, woran Freyj a sich erinnerte. Dazu schwebten ihr rote Farben vor, in sich verschwimmend und sich bewegend.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Stein. Steinern. Wo gab es Steine? Natürlich, in den Bergen. Im Gebirge. Aber ein Gesicht aus Stein? Das gab es dort nicht. Und steinerne Zähne? Auch nicht. Nein. Steinformen, die scharf und spitz waren, gab es dort nicht. Nicht auf den Bergen.
Und in den Bergen?
Halt! Ein Gedanke kam ihm, so verwegen, dass er ihn sofort wieder verwarf. Doch er kehrte wieder. Und er setzte sich in seinem Hirn fest. Stalaktiten! Tropfsteinzapfen, die von der Decke einer Höhle herabwuchsen. Mit einiger Fantasie konnte man sie als Zähne bezeichnen.
Lapidius sprang von der Truhe. Es gab ein dumpfes Geräusch, als seine Füße auf den Dielen landeten. Rasch setzte er sich wieder. Freyj a war gottlob nicht erwacht.
Hatte sie Stalaktiten gesehen? Wenn ja, war sie in eine Höhle gelockt worden. Welch ungeheurer Gedanke! Lapidius musste einräumen, dass seine Vermutung mehr als vage war, denn die weiteren Stichwörter, wie ›wundervoll‹, ›warm‹ und ›verschwimmendes Rot‹, machten in diesem Zusammenhang keinen Sinn.
Dennoch: Der Gedanke, es könnte sich bei den steinernen Zähnen um Stalaktiten handeln, ließ ihn nicht los.
Er ging nach unten und setzte sich auf seinen Lieblingsstuhl. Stalaktiten. Nach unten wachsende Tropfsteinzapfen …
Mit diesem Gedanken schlief er ein. Am gleichen Morgen zeigte Marthe sich nicht wenig überrascht, als Lapidius ihr schon wieder befahl, zum Markt zu gehen. Diesmal sollte sie Schweinernes kaufen. Nicht zu fett, nicht zu viel, nicht zu teuer. Und Zeit sollte sie sich lassen. Es eile durchaus nicht, sagte Lapidius, der mit einem Auge schon zum Experimentiertisch schielte.
»Es eilt nich? Ihr seid gut, Herr! Un wer machts Haus sauber, wennich nich da bin?«
»Ja, ja, nun geh.«
Als die Magd fort war, legte Lapidius als Erstes Taufliebs Bohrer auf den Tisch, anschließend holte er den Frauenkopf herbei. Aber noch konnte er mit seiner Untersuchung nicht beginnen. Der Grund war der Gestank des Kopfes. Der Schädel roch mittlerweile so Ekel erregend, dass dem empfindlichen Lapidius fast die Sinne schwanden. Es half nichts. Er musste das Übel ertragen, wollte er zu weiteren Erkenntnissen kommen. Nach kurzer Überlegung band er sich ein Tuch vor Nase und Mund und konnte nun endlich anfangen.
Zunächst führte er den Bohrer in eines der Stirnlöcher ein. Dass diese Maßnahme seine erste war, lag auf der Hand, denn wenn die Spitze nicht passte, brauchte er gar nicht erst weiterzumachen. Dann war Tauflieb schuldlos. Und er musste zu den anderen Handwerksmeistern laufen, um ihnen unter irgendeinem Vorwand ihre Bohrer abzuschwatzen.
Doch die Spitze passte.
Sie war nicht zu breit und nicht zu schmal, sondern fügte sich genau in das Loch ein, so genau, wie ein Bohrer nur in ein Loch hineinpassen konnte. Lapidius, der vor Spannung die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus. »Tauflieb, ich habe dich«, murmelte er erleichtert. »Du ahnst es noch nicht, aber ich habe dich. Und mit dir deine Satansbrüder. Denn die wirst du mit Sicherheit verraten – allein schon, um deinen eigenen Kopf zu retten. Freyja wird entlastet sein.«
Doch so weit war es noch nicht. Der Leichengestank holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Es wurde Zeit, den Frauenkopf fortzubringen. Das Corpus Delicti musste wieder in die Vorratsgrube zurück. Allerdings nicht, ohne es vorher zu verpacken. Die Gefahr, dass Marthe den Leichengeruch durch die Bodentür wahrnehmen würde, war zu groß. Nach einigem Suchen fand Lapidius ein großes, altes Kompassgehäuse, in das er den Schädel tat. Erleichtert entledigte er sich des Schutztuchs, verstaute das Gehäuse in der
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