Die Hoehle der Traenen
eine Frau namens Piper auf das hinabgeschaut, was damals ein einfaches Fischerdorf gewesen war. Bramble war zu Mute, als sähe sie beide Orte zur gleichen Zeit. Sie schüttelte den Kopf. Dieses Turvite konnte sie riechen, eine Mischung aus faulendem Fisch und Gewürzen,
Holzrauch und gebratenem Speck. Sie war am Verhungern.
Dann sah sie die durchgehende Barriere, die sämtliche stadteinwärts führenden Straßen blockierte, und hinter ihr Männer, die sich als Wache postiert hatten. »Sie versuchen, die Geister fernzuhalten«, sagte sie.
»Das bedeutet nicht, dass sie uns hereinlassen werden«, entgegnete Baluch. »Sobald die Geister vorrücken, werden die Leute vom Land hierher strömen. Die einzige Hoffnung für die Turviter, zu überleben, besteht darin, alle außer ihren eigenen Leuten zurückzuweisen.«
Bramble erinnerte sich daran, als Baluchs Sippe die gleiche Wahl hatte treffen müssen – die vor dem Eiskönig fliehenden Menschen entweder aufzunehmen oder zu bekämpfen. Sie hatten sich zum Kampf entschieden. Die fortwährenden Angriffe derer, die aus ihrem Land verdrängt wurden, hatten Acton die Ansiedlung jenseits der Berge planen lassen.
Statt den Hügel zum Hafen bergab zu steigen, gingen sie über den Felsgrat, der sich an diesen auf der Rückseite der Stadt anschloss. Sie stießen auf einen ausgetretenen Pfad, und auf halber Strecke begriffen sie auch, warum er dies war; sie mussten sich an die Seite stellen, um den gemolkenen Kühe auf deren Weg zu ihrer Weide Platz zu machen. Die Tiere gingen gemessenen Schrittes, während ihre Euter hin und her schwangen, und ihre Wärme wirkte beruhigend auf Bramble. Ihr zweimal am Tag stattfindender Zug schien das einzig Unveränderte.
»Ich möchte sehen, was auf der anderen Seite vor sich geht«, sagte Baluch. Er taxierte die Stadt mit dem Auge eines Kriegers, so wie er einst River Bluff taxiert hatte.
Die Barriere verlief um die ganze Stadt, doch als sie näher kamen, wurde deutlich, dass sie äußerst dürftig aufgebaut war und niemanden ernsthaft fernhalten würde.
»Ein Bann«, sagte Bramble mit Überzeugung. »Sie benutzen einen Zauber, um die Barriere zu verstärken.«
»Hoffentlich wissen sie, was sie da tun.«
Das Grasland auf der felsigen Landspitze lief in einer Hügelkuppe aus. Jenseits davon erstreckten sich auf der einen Seite Gemüsegärten bis zum Fluss herunter. Der Duft von Flieder, Rosmarin, Lavendel und Dung aus den Gärten vermischte sich in Brambles Nase. Unten am Hügel durchschnitt die nach Westen führende Straße ein Wechselspiel aus Häusern und Gemüsegärten.
Es war seltsam, nun der Straße nach Turvite zu folgen und endlich ihren Feind vor Augen zu sehen. Jener Tag in Oakmere, als Safred ihr gesagt hatte, ein Mann namens Saker habe Maryrose getötet und sie werde eine Gelegenheit bekommen, ihn aufzuhalten, lag nun Monate zurück.
Sie brauchten Acton, jetzt sofort. »Wir müssen es noch einmal versuchen!«, forderte sie Baluch auf.
Der schüttelte den Kopf. »Es wird nicht funktionieren. Ich habe es gespürt – da fehlte etwas in dem Zauberspruch. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Brosche oder Ash ist, aber so, wie wir es versucht haben, werden wir es nicht hinbekommen.«
»Dann müssen wir eben Ash finden.«
»Die Schlacht hat so gut wie begonnen«, sagte er und beugte die rechte Hand, so als ob dort ein Schwert erscheinen könnte. »Und Ash ist mitten in der Stadt, irgendwo. Wo, weiß ich nicht.«
»Aber er lebt?«
Baluch nickte, und sie spürte, wie Erleichterung sie überwältigte. Also war es nicht hoffnungslos. Riskant schon, aber nicht unmöglich.
Grinsend wuchtete sie sich die Tasche mit den Knochen über die Schulter. »Wenn sie die Stadt von vorne angreifen,
sollten du und ich den hinteren Weg nehmen, in der Gegend um den Hafen.«
Sie gingen wieder zurück bis zu der Stelle, wo der Pfad in Richtung Wasser abzweigte. Hier hob Baluch die Hand und ließ sie innehalten. »Schau«, sagte er.
An der zum Hafen führenden Barrikade war ein Kampf ausgebrochen. In Panik geratene Menschen versuchten, auf die wenigen Schiffe im Hafen zu gelangen. Die Wachen an der Barrikade ließen nur einen nach dem anderen durch und schlossen jedes Mal wieder die Absperrung, und das ging der Menge nicht schnell genug. Einige sprangen über die Barrikaden, andere stiegen die Treppen in den Häusern empor, die einen Teil der Verteidigungsanlagen der Stadt bildeten, und sprangen dann aus den Fenstern. Wem es gelang, rannte zu den
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