Die Hölle von Tarot
fähig.“
„Davon bin ich überzeugt“, stimmte Bruder Paul zu und dachte an den historischen Karl VI., der im Alter von zwölf Jahren den Thron bestieg und im Alter von zwanzig Jahren wahnsinnig wurde – und er dachte an Therion, der diese Rolle spielte. Aber seine eigenen Probleme bedrängten ihn mehr. Der einzig praktische und ehrenwerte Weg, der ihm blieb, um sich selbst vor der Folter und die Waldenser vor der Auslöschung zu retten – das war der Selbstmord. Irgendwie mußte ihm dies im Bewußtsein schon klar gewesen sein, als er zustimmte, zum Palast zu kommen. Solange der Gaukler in irgendeiner Form weiterlebte, waren die Waldenser nicht in Sicherheit und die Tarotkarten selber in Gefahr, ausgelöscht zu werden. Letzteres war von besonderer Ironie: Die Preisgabe des Tarotspiels in einer Prachtausgabe des königlichen Hofes, die Veröffentlichung, würde es zerstören, weil seine Urheber vernichtet würden. Es würde keine Bedeutung mehr besitzen und zu einem ganz gewöhnlichen Kartenspiel werden.
Hatte er den Mut, sich selber zu opfern? War dies der Weg, den die vor ihm Ausgesandten bei den Animationen gegangen waren? Er würde es sehr bald herausfinden!
Die Kutsche hielt an. Dieses Mal führte ihn Yvette in einen Garten innerhalb des Palastgeländes, der nach außen durch eine hohe Mauer abgetrennt war. „Warte hier“, sagte sie. „Ich hole den Maler.“
Während sie dies sagte, erschien die Sonne hinter den Wolken und leuchtete hell über die Mauer in den Garten. Der erste Strahl fiel auf eine Sonnenuhr auf einem Podest. Hohe Blumen wiegten sich in der Morgenbrise; waren es Sonnenblumen um diese Jahreszeit? Aber er wußte nicht genau, welche Jahreszeit herrschte. Frühling, hatte er angenommen, aber es konnte ebensogut auch Herbst sein. Die Sonne schien so hell und klar, daß die Strahlen sich in sechzehn verschiedene Richtungen ergossen, die Viertelkreise unterteilten und die gesamte Welt erleuchteten. Bruder Paul stand da, Yvette bei der Hand, und wollte sie trotz seines ablehnenden Urteils über ihren Charakter nicht ziehen lassen. Immerhin tat sie dies für ihn; König Karl hätte sie ohne einen Gedanken an das Tarotspiel verführen können. Nach ihrer Moral handelte sie richtig. Es war falsch, sie nur deswegen zu verurteilen, weil ihre Werte von denen anderer abwichen. Und irgendwie war es auch leichter, einer schönen Frau zu vergeben.
Plötzlich erfuhr er mit einer Klarheit, die der der Sonne gleichkam, seine Offenbarung. Er hatte eine andere Alternative – eine, die alle Seiten zufriedenstellen und niemanden verletzen würde – außer vielleicht die Inquisition selber.
„Ich möchte dir von der ersten Karte erzählen, die ich eurem Hofmaler beschreiben werde“, begann er. „Diese Karte ist dir gewidmet, meine hübsche Kleine.“
„Mir?“ Sie lächelte geschmeichelt.
„Für dich, du Kind des Gartens. Es ist eine Szene genau dieser Stelle in der Morgendämmerung, mit der Mauer und den Blumen – und zwei Menschen, eigentlich Kindern, angesichts der Schönheit der Schöpfung nackt wie Adam und Eva …“
„Mein Herr?“ fragte sie schalkhaft.
„Dann also bekleidet“, sagte er lächelnd. Er hatte sich die Karte des Heiligen Ordens der Vision vorgestellt, doch das war natürlich ein Anachronismus. „Gebadet in den Strahlen der goldenen Scheibe. Und der Name dieses Bildes lautet ‚Die Sonne’.“
„Die Sonne“, wiederholte sie bewundernd.
Ihr Vergnügen war nicht geringer als seines. Denn nun wußte er seinen Weg. Er würde ein Tarotspiel für den König erschaffen – aber nicht genau das Tarotspiel der Waldenser. Er würde es zwar verwenden, aber bestimmte Karten auslassen, damit die Inquisition niemals die volle Bedeutung des Spiels erfahren würde. Von einigen Karten wußten die Dominikaner bereits, daher mußte Bruder Paul diese beibehalten, wenn er auch die Hauptsymbole auslassen würde, um die Bedeutung rätselhafter erscheinen zu lassen. Da die Bilder bereits so beschaffen waren, daß man sie auf zwei Arten interpretieren konnte, der ursprünglichen und der oberflächlichen, war dies eine leichte Aufgabe. Er würde bei keinem Bild dessen wahre Natur verraten. Und wenn er acht Trümpfe gänzlich fortlassen könnte und in einem einzigen Streich die gesamten Schlüsselkarten, die den Geist symbolisierten …
Wieder lächelte er, immer noch Yvettes Hand haltend, neben ihr vor der Mauer. Der wahnsinnige König Karl würde es niemals merken; er hatte nur Augen für
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