Die Hölle von Tarot
schlimmer sein als die mittelalterliche Hölle, die er gerade hinter sich gelassen hatte?
„Nennen Sie Ihren zweiten Wunsch.“
„Ich wüßte gern um die Entwicklung und Zukunft des Tarot.“
Satan peitschte knallend mit seinem Schwanz auf den Boden. „So soll es sein …“
„Aber nicht mit körperlicher Teilnahme“, rief Bruder Paul. „Ich möchte es ansehen, aber nicht mitspielen!“ Würde Satan diese Änderung akzeptieren? Eine Erfahrung mit der Geschichte war mehr als genug gewesen!
„Nun, sehr gut. Tschüß“, sagte Satan und winkte mit den Fingern. Diese Geste wäre bei jedem anderen Wesen weibisch erschienen.
Bruder Paul merkte, wie er in die Luft stieg. Er blickte hinab – und sah seinen Körper im Büro Satans. Satan und die Möbel blieben an der gleichen Stelle. Als Bruder Paul weiter emporstieg, sah er auch das Büro der Sekretärin – sie säuberte gerade in der zeitlosen Art und Weise dieses Typus ihre Nägel – und die umliegenden Räume. Er konnte durch die Wände sehen und sich jeden Teil, den er wollte, genauer betrachten, wie bei einer variablen Röntgenaufnahme.
So sah also Seelenwanderung aus! Sein Geist hatte sich von seinem Gastkörper gelöst und wanderte nun umher und betrachtete sich selber. Er war eins geworden mit der fünften Farbe des Tarot.
Es gab eine Menge Büros – Hunderte, Tausende, zu viele, um sie zählen zu können. Jedes war lediglich eine Zelle, mit den anderen durch Gefäße verbunden und größere Organe bildend. „Und ein jeder in der Zelle seines Selbst ist fast von seiner Freiheit überzeugt“, dachte Bruder Paul in Erinnerung an eine Zeile des Dichters Auden. Alle Zellen zusammen bildeten ein riesiges Gebäude, das mehrere tausend Stockwerke hoch und von unregelmäßigem Äußeren war, gestützt von zwei massiven Säulen – der Gestalt Satans selber.
Dann, weiter oben, sah er die Hölle mit ihren Myriaden von Zellen, eine jede für eine besondere Folter. Und schließlich stieß er in das helle Licht des Tages vor. Endlich war er aus der Hölle heraus – aber nur mit seinem Geist.
Nun glitt er an die Küste des mittelalterlichen Europas, hinein in die Stadt Paris – er kannte die Epoche, ohne zu wissen, warum. Noch immer konnte er die Stadt nicht besichtigen, denn er gelangte ins Schlafzimmer König Karls. Dieser vertrieb sich die Langeweile, indem er mit Gringonneur Tarot spielte. Das Spiel war ebenso, wie es Bruder Paul geschaffen hatte: zweiundzwanzig Triumphe, vier Farben, achtundsiebzig Karten. Ein bloßer Schatten des wahren Tarot, aber ein privater Sieg für Bruder Paul.
Weil Karl immer Mitspieler brauchte, zwang er seine Höflinge zu Tarotsitzungen. Ihnen machte es jedoch Spaß; sie begannen, für die Karten und Reihenfolgen neue Interpretationen zu entwickeln, die dem Ego des Königs schmeichelten. Bald fertigte man neue Spiele an, und es wurde in ganz Frankreich und Europa, wo immer man es sich leisten konnte, Mode, Tarocchi zu spielen. Tarot wurde zum Statussymbol. Rasch entwickelten sich neue Variationen, verbunden mit regionalen Besonderheiten und Interessen. Einige Spiele hatten bis zu einundvierzig Triumphe – die bald in Trümpfe umbenannt wurden – die ursprünglichen, die Bruder Paul entworfen hatte, plus die zwölf Zeichen des astrologischen Sternkreises, plus die vier Elemente (es war ihm wirklich gelungen, das fünfte fortzulassen!) und bestimmte Tugenden. Einige Spiele hatten acht Farben. Aber keines stellte die besonderen Karten wieder her, die Bruder Paul verborgen hatte: acht Triumphe und alle Bilder des Heiligen Geistes.
Die Waldenser wußten natürlich die Wahrheit – aber sie ließen sie nie verlautbaren. Und so überlebten sie trotz Verfolgung und Plagen, überlebten schließlich als rechtmäßige christliche Sekte mit Abzweigungen in der ganzen Welt, auch in Amerika. In späteren Jahrhunderten, als Ketzerei unter dem Namen Protestantismus legitim wurde, hätte man das Geheimnis ruhig verraten können – aber da war es nicht mehr so wichtig. Die Verfolgung hatte das ursprüngliche Tarotspiel zu dem gemacht, was es war; als die Verfolgung aufhörte, verschwand die Bedeutung. Das gefälschte Tarot machten sich die Zigeuner und andere Randelemente der Gesellschaft zu eigen und nutzten es in erster Linie für die Weissagung. Und so blieb das Geheimnis bestehen und wurde schließlich auch von den Waldensern selber vergessen.
Die Entwicklung der Drucktechnik am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts brachte massenweise
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