Die Hofnärrin
muss einen klar vorgezeichneten Weg gehen.«
Er schwieg einen Moment, dann schien er sich plötzlich meiner
Anwesenheit zu erinnern. »Und du? Warum bist du gekommen?« Seine Stimme
klang ungewohnt scharf. »Warum hast du nach meinem Vater gerufen?«
»Ich wollte nicht zu Eurem Vater, sondern zu Euch«, antwortete
ich. »Bei Hofe hieß es, Ihr wäret zu Eurem Vater gegangen. Ich habe
Euch gesucht. Ich soll Euch eine Botschaft überbringen.«
Sein Gesicht leuchtete auf. »Eine Botschaft? Von wem?«
»Von Lord Robert.«
John Dees Freude verflog so rasch, wie sie gekommen war.
»Einen Augenblick lang glaubte ich schon, ein Engel sei dir erschienen,
um dir eine Botschaft für mich mitzugeben. Was wünscht Lord Robert?«
»Er will wissen, was ihn erwartet. Er hat mir zwei Dinge
aufgetragen. Erstens, Lady Elisabeth zu sagen, sie solle Euch aufsuchen
und Euch bitten, ihr Lehrer zu werden, und zweitens, Euch zu sagen, Ihr
sollet Euch mit einigen Männern treffen.«
»Mit welchen Männern?«
»Sir William Pickering, Tom Wyatt und James Croft«, zählte ich
auf. »Und er trug mir auf, Euch Folgendes zu sagen: Diese Männer wollen
ein alchemistisches Experiment durchführen, sie wollen aus gemeinen
Metallen Gold machen und Silber zu Asche vermindern, und Ihr sollt
ihnen dabei helfen. Edward Courtenay kann eine Chymische Hochzeit
machen. Und ich soll wieder zu Lord Robert und ihm sagen, was auf ihn
zukommt.«
Mr. Dee warf einen Blick auf sein Fenster, als fürchte er
neugierige Ohren auf dem eigenen Sims. »Dies sind unruhige Zeiten. Ich
sollte nicht einer verdächtigen Prinzessin dienen sowie einem Mann, der
unter Anklage des Hochverrats im Tower sitzt – und darüber
hinaus drei anderen Männern, deren Namen ich vielleicht schon vorher
kannte und deren Pläne ich vielleicht schon vorher anzweifelte.«
Ich sah ihm gerade in die Augen. »Wie Ihr wünscht, Sir.«
»Und auch du könntest in arge Gefahr geraten, junge Frau«,
fuhr er fort. »Wie kommt er dazu, dich solchen Risiken auszusetzen?«
»Ich stehe unter seinem Befehl«, antwortete ich mit fester
Stimme. »Ich habe ihm mein Wort gegeben.«
»Er sollte dich freigeben«, sagte John Dee. »Er kann aus dem
Tower nicht mehr alles und jedem befehlen.«
»Er hat mich bereits freigegeben. Ich soll nur noch ein
einziges Mal zu ihm kommen und ihm ausrichten, was Ihr für England
vorausgesehen habt.«
»Sollen wir also in den Spiegel schauen?«, fragte er.
Ich zögerte. Ich fürchtete mich vor dem dunklen Spiegel und
dem verdunkelten Zimmer, ich hatte Angst vor den Dingen, die aus der
Finsternis kommen und uns verfolgen konnten. »Mr. Dee, beim letzten Mal
habe ich nicht wirklich in die Zukunft gesehen«, gestand ich verlegen.
»Damals, als du den Todestag des Königs vorhergesagt hast?«
Ich nickte.
»Als du prophezeit hast, die nächste Königin würde Jane?«
»Ja.«
»Deine Antworten waren doch korrekt«, sagte er.
»Kaum mehr als Mutmaßungen«, widersprach ich. »Ich habe sie
einfach aus der Luft gegriffen. Es tut mir leid.«
John Dee lächelte. »Dann tu es doch einfach noch einmal«,
schlug er vor. »Rate einmal für mich. Oder für Lord Robert. Wenn er
doch darum gebeten hat?«
Ich hatte mich in der eigenen Falle gefangen, und er wusste
es. »Nun gut.«
»Beginnen wir«, sagte er. »Setz dich, schließe deine Augen,
versuche, an nichts zu denken. Ich bereite das Zimmer für die Sitzung
vor.«
Ich tat wie mir geheißen und setzte mich auf einen Schemel.
Ich hörte, wie er leise im Nebenraum wirtschaftete: das Rascheln
schwerer Vorhänge, das leise Züngeln der Flammen, als er Feuer aus dem
Kamin holte und die Kerzen anzündete. Dann sagte er leise: »Alles ist
bereit. Komm – und mögen die guten Engel uns leiten.«
Er nahm meine Hand und führte mich in einen kleinen
schachtelartigen Raum. Der Spiegel lehnte an einer Wand, auf einem
davor aufgestellten Tisch lag eine Wachstafel mit seltsamen Symbolen.
Vor dem Spiegel brannte eine Kerze, und John Dee hatte eine weitere auf
den Tisch gegenüber gestellt, sodass sich die Anzahl der Kerzen ins
Unendliche zu steigern schien, in weite Entfernungen über die Welt
hinaus, jenseits der Kreise des Mondes, der Sonne und der Planeten, die
mir John Dee in seinem schwingenden, kreisförmigen Modell gezeigt
hatte. Das Licht flog jedoch nicht in den Himmel, sondern in eine
absolute Dunkelheit, wo am Ende mehr Finsternis herrschen würde als
Kerzenschein und wo es nichts geben würde als Finsternis.
Ich atmete
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