Die Hornisse
.38er in der Schublade ihrer Frisierkommode nicht gefunden hatte, war ihr allerdings gleich der Gedanke gekommen, ihr zu Depressionen bis zur Selbstzerstörung neigender Mann könnte wissen, wo sich die Waffe befand. Aber wozu würde er sie benutzen? Zum Selbstschutz? Wohl kaum. Nur selten dachte Seth daran, die Alarmanlage einzuschalten. Er haßte es, zu schießen, und hatte auch nie eine Waffe getragen, nicht einmal in Little Rock, wo er Mitglied der National Rifle Association gewesen war, weil es zum guten Ton gehörte.
Es waren bohrende Fragen, die Hammer auf ihrer Heimfahrt nicht aus dem Kopf gingen. Dieser Schwachkopf. Sollte das seine letzte und große Rache sein? Selbstmord war ein gemeiner und hinterhältiger Akt, es sei denn, man war ohnehin dem Tode nah und wollte nur etwas früher den Schmerzen entfliehen. Die Mehrheit der Selbstmörder brachte sich vor allem aus Rachemotiven um. Hammer hatte so manche letzten Worte dieser Menschen gelesen. Es gehörte zum Niederträchtigsten, das sie sich vorstellen konnte. Hammer brachte wenig Mitgefühl für Selbstmörder auf. Gab es denn irgendwo eine Menschenseele, die auf ihrem Lebensweg keine schwierigen Phasen erlebt hatte? Jeder war schon einmal auf einsamer, beschwerlicher Strecke ins Stolpern geraten, und wem wäre es da nicht in den Sinn gekommen, daß es vielleicht das Beste wäre, sich einfach von der nächsten Klippe zu stürzen und allem ein Ende zu machen? Hammer selbst machte da keine Ausnahme. Sie war sich ihrer zeitweiligen Anfälle von Freßsucht, übermäßigem Trinken, mangelnder Bewegung und Trägheit durchaus bewußt. Aber sie hatte sich immer wieder zusammengerissen und weitergemacht. Jedesmal hatte sie auf den richtigen Weg zurückgefunden und war wieder gesund geworden. Sie würde nicht sterben, weil sie Verantwortung übernommen hatte und die Menschen sie brauchten. Sie betrat ihr Haus, ohne zu ahnen, was sie erwartete. Sie verschloß die Tür und schaltete die Alarmanlage ein. Aus Seths Schlafzimmer gegenüber der Küche dröhnte laut der Fernseher. Sie zögerte einen Moment, wollte schon zurückgehen und nach ihm sehen. Doch sie schaffte es nicht. Plötzlich hatte sie Angst. Sie ging in ihren Trakt des Hauses und machte sich im Bad frisch. Ihre Angst wuchs. Obwohl es schon spät war, zog sie sich nicht aus. Auf den Dewar's, ihren Nachttrunk, verzichtete sie. Wenn er es getan hatte, dann würden in wenigen Minuten Haus und Garten voller Menschen sein. Da wollte sie keinesfalls im Nachthemd erscheinen oder nach Schnaps riechen. Judy Hammer fing an zu weinen.
Brazil schrieb eilig an seiner Story und dachte an seine Abmachung mit Hammer. Noch in Uniform hatte er sich umgehend an den Computer gesetzt. Seine Finger flogen über die Tasten. Zwischendurch blätterte er in seinen Notizen. Keines der unglaublichen Details dieses jüngsten Schwarze-Witwen-Mordes ließ er aus. Fotografisch genau gab er wider, was er im Inneren des Wagens gesehen hatte, berichtete von den blutigen Münzen, davon, was Polizei und Gerichtsmediziner getan hatten, suchte nach treffenden Worten dafür, wie ein solch gewaltsamer Tod sich anfühlte, wie er roch, wie er aussah. Sein Bericht war bewegend und bildlich. Aber die Identität des Opfers gab er nicht preis. Brazil hielt Wort. Das fiel ihm nicht leicht. Der Journalist in ihm schrie danach, die Wahrheit zu schreiben, erwiesen oder nicht. Doch zugleich besaß Brazil ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Er konnte die Polizei nicht hintergehen. Schließlich würde auch Chief Hammer ihn nicht hintergehen, genausowenig West. Morgen nachmittag um fünf bekäme er grünes Licht, und niemand würde ihm zuvorkommen, vor allem Webb nicht. Am nächsten Morgen würden alle es im Observer lesen. Webb war genau in dem Moment in den Dreiundzwanzig-Uhr-Nachrichten auf Sendung, als Hammer das Schlafzimmer ihres Mannes betrat. Ihr Pulsschlag beruhigte sich ein wenig. Blut war nirgends zu sehen. Zumindest oberflächlich betrachtet. Seth lag auf der Seite, den Kopf tief ins Kissen vergraben. Webbs Stimme klang ungewöhnlich getragen. Der Mord war der Aufmacher der Sendung. »... die erschreckendste Erkenntnis bei der Tragödie dieser Nacht ist die Tatsache, daß es sich bei dem Opfer möglicherweise um Senator Ken Butler handelt.«
Hammer erstarrte. Ihr Kopf fuhr zum Fernseher herum. Seth schreckte hoch und saß plötzlich aufrecht im Bett. »Großer Gott«, rief er. »Erst letzten Monat haben wir uns doch noch auf ein paar Drinks mit ihm
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