Die Hornisse
schlapp zu werden, einfach zerbröselten wie Eierschalen. Ihre letztes Paar Tennisschuhe war ein niedrig geschnittenes, einfarbig weißes Leinenmodell von Converse. Auch die wurden nicht mehr hergestellt. West hätte auch nicht gewußt, wo sie danach suchen sollte. Tenniskleidung besaß sie nicht mehr. Auch machte es ihr keinen besonderen Spaß mehr, diesen Sport im Fernsehen zu verfolgen. Im derzeitigen Stadium ihrer persönlichen Entwicklung bevorzugte sie Baseball. Ihre Antwort hatte viele Gründe. »Kommt nicht in Frage.«
Sie legte auf und machte sich umgehend auf den Weg zu Hammers Büro. Horgess war nicht mehr derselbe freundliche und mitteilsame Horgess, der er sonst war. Er tat West leid. So oft Hammer ihm gesagt hatte, er solle die Sache vergessen, er würde sich nie verzeihen. Er hatte statt des Telefons das Funkgerät benutzt. Horgess, dieser unterwürfige Captain vom Dienst, hatte dafür gesorgt, daß alle Welt von dem peinlichen Schuß im Haus der Chefin erfuhr. Über nichts anderes wurde mehr geredet und spekuliert. West hoffte, die entsprechenden Witze würden ihrem Boß nie zu Ohren kommen. Horgess war deprimiert und blaß. Für West hatte er kaum ein Kopfnicken übrig. »Ist sie da?« fragte West. »Ich nehme an«, sagte er mutlos.
West klopfte an und hatte im selben Moment auch schon die Tür geöffnet. Hammer telefonierte und klopfte dabei mit einem Kugelschreiber auf einen Stapel pinkfarbener Telefonnotizzettel. Sie wirkte erstaunlich aufgeräumt und professionell in ihrem tabakbraunen Anzug mit gelbweiß gestreifter Bluse. West war angenehm überrascht, daß ihr Boß nach langer Zeit mal wieder Hose und flache Schuhe trug. Sie zog einen Stuhl heran und wartete, bis Hammer den Hörer vom Kopf nahm. »Ich wollte nicht stören«, sagte West.
»Schon in Ordnung, schon in Ordnung«, versicherte ihr Hammer. Sie schenkte West jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. Ruhig lagen ihre gefalteten Hände auf dem peinlich aufgeräumten Schreibtisch, wie jemand, der viel zuviel zu tun hatte, aber entschlossen war, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Niemals hatte Hammer den Überblick verloren, und dabei würde es auch bleiben. Allerdings gab es auch Dinge, denen sie gar nicht unbedingt auf den Grund gehen wollte. Je älter sie wurde, desto häufiger wunderte sie sich über die Dinge, die ihr in früheren Jahren wichtig gewesen waren. In jüngster Zeit hatte sich ihr Blickwinkel besonders dramatisch verschoben. Sie kam sich vor wie ein Gletscher, der neue Kontinente zusammenschob und alte Welten zerbröseln ließ. »Wir hatten noch gar keine Zeit, in Ruhe zu reden«, fuhr West einfühlsam fort. »Wie geht's Ihnen?«
Ein kleines Lächeln lag auf Hammers Gesicht und eine Traurigkeit in ihrem Blick, die sie rasch zu verbergen versuchte. »Ich tue mein Bestes, Virginia. Danke, daß Sie fragen.«
»Die Berichte und diese Karikaturen in den Zeitungen, das alles ist einfach entsetzlich«, fuhr West fort. »Aber Brazils Artikel war großartig.« Sie zögerte ein wenig. Andy Brazils Rolle in dem Spiel irritierte sie noch immer, wenngleich sie nicht genau wußte, warum. Hammer dagegen wußte es durchaus. »Hören Sie, Virginia«, sagte sie und lächelte wieder, diesmal freundlich und dazu leicht amüsiert. »Er ist wirklich etwas Besonderes, das muß ich zugeben. Und was mich betrifft, müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
»Wie bitte?« West runzelte die Stirn.
Brazil war jetzt in einem Teil der Stadt unterwegs, in dem er sich ohne bewaffnete Begleitung nicht hätte aufhalten sollen. Die Sonne schien hell. Er befand sich an einem Knotenpunkt der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt, Five Points genannt: State Street, Trade Street, Fifth Street, Beatties Ford Road und Rozzellas Ferry Road gingen hier vom Hauptdurchgangsstrang der Interstate 77 ab und führten sämtlichen Verkehr ins Zentrum der Queen City. Dies schloß auch Tausende von Geschäftsleuten ein, die am Charlotte-Douglas International Airport landeten, aber auch eine Menge übler Gestalten, darunter den Serienmörder, Punkin Head. Jene, denen der Zuhälter unter die Augen gekommen war, und das waren nicht viele, hielten ihn für transsexuell oder für einen Zwitter. Er residierte normalerweise in einem dunkelblauen Achtzylinder Ford-
Lieferwagen, Baujahr 84, Modell 351. Dieser Wagen kam seinen Bedürfnissen besonders entgegen, weil der Laderaum komplett geschlossen war und nur das Führerhaus Fenster hatte - ein Umstand, der Punkin Head bei allen
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