Die Hornisse
entgegengebracht hatte. All seine Fehler waren für sie wie ausgelöscht.
Sie war an allem schuld. Es war ihr .38er Spezial, und es war ihr Remington +P-Hollowpointprojektil, das da in ihm steckte. Auf ihr Kommando hatte er unter der Bettdecke nach der Waffe gegriffen, um sie ihr auf der Stelle zu geben. Hammer hatte ihm, was sein Gewicht anging, dieses Ultimatum gesetzt, und sie hätte jetzt nur allzugern geglaubt, daß sein derzeitiger Zustand nicht auf einen unglücklichen Zufall zurückzuführen war, sondern auf Seths konstitutionelle Schwäche. Von Stunde zu Stunde wurde er weniger, die Gewebeschichten bei jedem chirurgischen Eingriff dünner, und das alles direkt vor ihren Augen. Diese Art Abmagerungskur hatte sie ihm nun bestimmt nicht gewünscht. Jetzt bestrafte er sie für all die Jahre, die er in ihrem Schatten gelebt hatte, ihr Auftrieb gegeben, sie beflügelt hatte, ihr größter Fan gewesen war. »Chief Hammer?«
Das war Dr. Cabel in grüner OP-Montur mit Kappe, Maske, Handschuhen und Überschuhen. Er war nicht älter als Jude. Gott, steh mir bei, dachte sie. Sie atmete tief durch und stand ruhig auf. »Könnten Sie mich einen Moment mit ihm allein lassen?« fragte Dr. Cabel.
Hammer ging nach draußen in den hellen, antiseptischen Flur. Schwestern, Ärzte, Angehörige und Freunde scharten sich in den angrenzenden Räumen um andere Patienten in ihren schmalen Hydraulikbetten. Maschinen überwachten sie und hielten ihre gefährdeten Lebensfunktionen in Gang. Benommen beobachtete sie die Szene, als Dr. Cabel aus Seths Zimmer kam und sein Krankenblatt in die Hülle an der Innenseite der Zimmertür schob. »Wie geht es ihm?« Immer wieder stellte sie dieselbe Frage. Sie zog die Maske vom Gesicht. Sie hing ihr jetzt um den Hals. Dr. Cabel behielt seine eigene über dem Mund. Er ging keinerlei Risiko ein. Sogar zu Hause schäumte er sich beim Duschen von Kopf bis Fuß mit antiseptischer Seife ein. Mit sorgenvollem Blick schloß er Seths Tür. Hammer war klug genug, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Sie wollte keine Euphemismen, keine gewundenen Erklärungen, keine Ausflüchte mehr hören. Wenn dieser junge Facharzt für Infektionskrankheiten vorhatte, ihr irgendwelche Fakten zu verschweigen, würde sie ihn schon zurechtstutzen. »Er muß zurück in die Chirurgie«, sagte der Arzt. »Aber das ist zu diesem Zeitpunkt ziemlich normal.«
»Und was bedeutet dieser Zeitpunkt genau?« wollte Hammer wissen.
»Der zweite Tag eines fortschreitenden StreptokokkenGangräns und einer nekrotisierenden Fasziitis«, erklärte er. »Die Nekrose und die Wundausscheidungen haben sich gegenüber dem ursprünglichen Zustand deutlich verschlechtert.«
Dr. Cabel respektierte Chief Hammer zwar, aber mit ihr zu tun haben wollte er nicht. Er sah sich nach einer Schwester um. Mist. Keine in der Nähe. »Ich muß anfangen«, sagte er.
»Nicht so schnell«, wandte Hammer ein. »Was genau werden Sie im OP mit ihm machen?«
»Genaueres wissen wir erst, wenn wir ihn vor uns haben.«
»Welche Risiken können möglicherweise auftreten?« Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt.
»Allgemein gesprochen entfernen wir das zerstörte Gewebe bis tief ins gesunde, durchblutete Gewebe hinein. Wahrscheinlich werden wir die Wunde mit Kochsalzlösung spülen und einen Spezialverband anlegen. Wir werden zweimal täglich die hyperbarische Sauerstofftherapie fortsetzen, außerdem empfehle ich eine ausschließlich parenterale Nahrungszufuhr.«
»Also Multivitamine«, sagte sie.
»Nun, ja.« Er war ein wenig überrascht über ihre Fähigkeit, die Zusammenhänge zu erkennen.
Hammer kaufte seit Jahren Vitaminpräparate und konnte daher an dieser Maßnahme nichts Besonderes erkennen. Dr. Cabel wollte gehen, doch Hammer hielt ihn an seinem grünen Kittel zurück. »Lassen wir das Versteckspiel«, sagte sie. »Seth hatte ein Dutzend Streptokokkenanginen in seinem Leben. Warum jetzt diese Entwicklung? Abgesehen von seinem desolaten Immunsystem?«
»Es sind nicht exakt dieselben Erreger wie bei Angina.«
»Das heißt im Klartext?«
Diese Lady würde ihn nicht so schnell laufen lassen. Dr. Cabel hatte plötzlich aus anderen Gründen Mitleid mit Seth als bisher. Mit dieser Frau zusammenzuleben, konnte einen schon zur Verzweiflung bringen. Unvorstellbar, daß man sie bat, einem einen Kaffee zu holen, oder daß man ihr Wort in Frage stellte. Wenn Dr. Cabel keine andere Möglichkeit sah, rettete er sich in die Sprache, die nur seine eigene Superkaste
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