Die Hornisse
verstand.
»Es ist durchaus denkbar, daß sich Streptokokken genetisch verändern, das heißt neue genetische Informationen erworben haben. Dies ist durch eine Infektion mit Bakteriophagen möglich«, erklärte Dr. Cabel.
»Was sind Bakteriophagen?« Hammer ließ nicht locker. »Hm, bei denen handelt es sich um ein Virus, das in der Lage ist, einem Wirtsbakterium seine DNA einzupflanzen«, sagte er. »Man geht von der Hypothese aus, daß in annähernd vierzig Prozent der jüngeren invasiven Infektionen gewisse Mi-Streptokokkenstämme der Serogruppe A genetisches Material von Bakteriophagen übernommen haben. Entsprechend den Erhebungen der WHO.«
»WHO?« Hammer runzelte die Stirn.
»Genau.« Er sah so nachdrücklich auf seine Uhr, daß sie es einfach bemerken mußte.
»Wer oder was, zum Teufel, ist die WHO?« Sie bestand auf einer Antwort.
»Die World Health Organization, Weltgesundheitsbehörde. Dort gibt es ein Streptokokken-Referenzlabor. Um es kurz zu machen, dieses Phänomen könnte mit einem Gen zusammenhängen, in das sich ein Toxin eingeschleust hat, das als Superantigen bezeichnet wird und nach weitverbreiteter Ansicht mit dem Toxinschocksyndrom in Zusammenhang gebracht werden kann.«
»Mein Mann hat also dasselbe, was man auch von einem Tampon bekommen kann?« Hammer hatte die Stimme erhoben.
»Der Erreger ist ein entfernter Verwandter.«
»Und seit wann wird in solchen Fällen amputiert?« fragte sie herausfordernd. Passanten warfen neugierige Blicke auf die beiden Personen in Grün, die da auf dem hellerleuchteten Flur diskutierten.
»Nein, nein.« Diese Frau mußte er unbedingt loswerden. »Ma'am, beim Zustand Ihres Mannes ist ein chirurgischer Eingriff die effektivste Behandlungsmethode.« Dann warf er sich mit Shakespeare in die Brust: »>Sei blutig, kühn und frech<«, zitierte er. »König Lear.«
»Macbeth«, rief Hammer dem davoneilenden Dr. Cabel nach. Sie liebte Theater.
Sie blieb noch, bis ihr Mann wieder in den OP gefahren wurde. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Gegen neun war sie ins Bett gesunken, zu besorgt und zu erschöpft, um noch einen einzigen vernünftigen Gedanken hegen zu können. So schliefen also Hammer und ihr Deputy Chief in ihren Betten unruhig dem nächsten Tag entgegen, die eine mit, die andere ohne Kuscheltier.
Brazil wiederum wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und dann wieder auf den Bauch, die Beine mal über der Decke, dann wieder drunter. Schließlich fand er Ruhe auf dem Rücken, starrte zur dunklen Zimmerdecke hinauf und lauschte dem Gemurmel des Fernsehers, vor dem seine Mutter wieder einmal auf ihrer Couch in tiefe Besinnungslosigkeit gefallen war. Er dachte über Wests Worte nach. Er solle sich eine Wohnung suchen, hatte sie gesagt, und von hier wegziehen. Er fand den Gedanken beängstigend und aufregend zugleich, doch jedesmal, wenn er ihn ein Stückchen weiterdachte, rannte er gegen dieselbe Schimäre, die ihn sofort in die Gegenrichtung scheuchte. Was sollte dann mit seiner Mutter geschehen? Was sollte er unternehmen? Was würde aus ihr werden, wenn er sie allein ließ? Sicher konnte er ihr auch weiterhin Lebensmittel vorbeibringen, nach ihr sehen, das Notwendigste reparieren und Besorgungen für sie erledigen. Mit diesen Sorgen warf er sich im Bett hin und her und hörte durch die Wand die unheimlichen Töne, die jetzt, um drei Uhr morgens, nur von dem letzten aller Horrorstreifen stammen konnten. Wieder dachte er an West, und wieder bedrückte ihn das.
Brazil kam zu dem Schluß, daß er nicht das geringste für West übrig hatte. Sie war ein so völlig anderer Mensch als die freundliche, verständnisvolle Hammer. Eines Tages würde er eine solche Frau finden. Sie würden Freud und Leid teilen, einander respektieren, zusammen Tennis spielen, laufen, mit Gewichten trainieren, kochen, Autos reparieren, zum Strand fahren, gute Literatur und Gedichte lesen. Sie würden einfach alles miteinander tun. Natürlich brauchte man auch ein wenig Freiraum. Was wußte West schon von diesen Dingen? Sie errichtete Gartenzäune und mähte ihren Rasen mit einem Rasentraktor. Für ein Gerät, das man schieben mußte, war sie zu faul, obwohl ihr Grundstück kaum zweitausend Quadratmeter groß war. Sie hatte abstoßende Eßgewohnheiten. Sie rauchte. Brazil drehte sich abermals um und ließ die Arme auf beiden Seiten der Matratze herunterhängen. Er war unglücklich. Um fünf gab er seine Einschlafversuche auf, ging zum Trainingsplatz und zog seine
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