Die Hornisse
»Nun, Euer Ehren, das Problem ist, es gibt keine.« »Es muß eine geben«, sagte die Richterin.
»In diesem Bereich stand ein Gebäude, das 1995 abgerissen wurde, Euer Ehren. Der Angeklagte und seine Begleiter befanden sich weiter hinten auf dem überwucherten Gelände.«
»Und die Adresse des abgerissenen Gebäudes?«
»Ich kenne sie nicht«, antwortete Pond nach kurzem Zögern. Mr. Anthony lächelte. Sein Pflichtverteidiger sah selbstgefällig drein. West bekam Kopfschmerzen. Hammer war noch abwesender. Die Richterin trank aus ihrer Wasserflasche.
»Sie werden dem Gericht die Adresse besorgen«, sagte die Richterin und drehte den Verschluß zu.
»Ja, Euer Ehren. Doch der Ort dieser Transaktion liegt nicht genau an dieser Adresse, sondern weiter hinten, etwa fünfundzwanzig Meter, und dann noch einmal fünfzehn zur Seite. Ich würde sagen, in einem Winkel von sechzig Grad vom abgerissenen Independence Welfare Building. Dort hatte Mr. Anthony in einem Dickicht eine Art Stadtstreicher-Camp eingerichtet, in dem Crack gedealt und geraucht wurde. An besagtem Abend wurden dort außerdem mit Gleichgesinnten Krebse verzehrt. Das war am 22. Juli.« Staatsanwalt Pond hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, Hammers und Wests Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das galt auch für Johnny Martinos Mutter, zwei Vollzugsbeamte, einen Bewährungshelfer und den Rest des nicht schlafenden Publikums. Sie alle sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verständnislosigkeit an. »Das Gericht benötigt eine Adresse«, insistierte die Richterin. Beim nächsten großen Schluck Wasser keimte in ihr plötzlich eine Wut auf ihren Psychiater sowie auf alle manisch Depressiven dieser Welt auf. Mit der Einnahme von Lithium wurde es nicht nur notwendig, täglich eine Badewanne voll Wasser zu trinken, sondern die Folge war auch noch ein verstärkter Harndrang. Nach Richterin Bovines Definition führte das zu einem doppelten Risiko. Durch ihre Nieren tropfte es wie bei einer Kaffeemaschine, und ihre Blase war voll, wenn sie den Weg von Charlotte und ins Gaston County geschafft hatte, eine Sitzung auf der Richterbank absolviert oder einen Kinobesuch hinter sich hatte. Auch überfüllte Flugzeuge konnten sie in eine unangenehme Lage bringen und nicht zuletzt das verschlossene Toilettenhäuschen an ihrer Laufstrecke. Als Richterin hätte sie, wenn ihre Not zu groß wurde, eine Verhandlung jederzeit und immer wieder um zehn, zwanzig oder dreißig Minuten vertagen können oder bis nach der Mittagspause. Von Rechts wegen hätte sie auch in so einem verdammten fahrbaren Toilettenstuhl daherkommen und tun und lassen können, was sie wollte. Eines aber würde sie nie im Leben tun, nämlich eine einmal begonnene Verhandlung unterbrechen. Schließlich war die Richterin eine wohlerzogene Lady, die in einem Haus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg aufgewachsen war und das Queens College besucht hatte. Richterin Bovine war hart, aber keinesfalls ungehobelt. Sie ertrug weder Dummköpfe noch Menschen ohne Klasse, und jeder mußte ihr tadelloses Benehmen attestieren. Es gab wirklich nichts Wichtigeres als gute Manieren.
Staatsanwalt Pond zögerte. Hammer war mit ihren Gedanken erneut weit weg. West fand keine bequeme Sitzposition. Die Holzbank drückte ihr das Koppel schmerzhaft ins Kreuz. Schwitzend wartete sie auf das Vibrieren ihres Piepers. Mit Brazil war etwas nicht in Ordnung. West spürte das, wußte jedoch nicht, was es war oder was sie dagegen tun konnte.
»Mr. Pond«, sagte die Richterin, »bitte fahren Sie fort.«
»Danke, Euer Ehren. An besagtem Abend des 22. Juli verkaufte Mr. Anthony Crack an einen verdeckten Ermittler der Polizei von Charlotte.«
»Befindet sich dieser Ermittler hier im Gerichtssaal?« Die Richterin warf einen flüchtigen Blick auf die Menge der armen Teufel unten im Saal.
Mungo stand auf. West drehte sich um. Sie war entsetzt, als sie sah, wer das plötzliche Rascheln, Scharren und Flüstern verursacht hatte. Oh Gott, nicht der schon wieder! West überkam eine düstere Vorahnung. Hammer mußte an einen Morgen denken, an dem Seth ihr das Frühstück ans Bett gebracht und einen Satz Wagenschlüssel auf das Tablett hatte fallen lassen. Der neue Triumph Spitfire war grün mit einer Innenausstattung aus Wurzelholz. Damals war sie noch Sergeant mit relativ viel Freizeit und er der reiche Sohn eines reichen Grundbesitzers gewesen. Sie hatten lange Fahrten über Land und Picknicks gemacht. Wenn sie von der Arbeit heimkam, hatte Musik
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