Die Hornisse
was ich tue.«
»Das wissen Sie ganz und gar nicht.«
Vielleicht war sie ja doch lesbisch oder wenigstens bisexuell. In jedem Fall hatte sie den etwas rauhen Akzent des Mittleren Westens. Er griff nach einem roten Stift und geriet zunehmend in Begeisterung. Er hatte einen Atomkern gemalt, umkreist von Molekülen, die entfernt an kleine Eier erinnerten. Zeugung und Geburt. Das war schöpferisch.
Als wäre dieser Morgen nicht schon schlimm genug, mußte West auch noch ins Leichenschauhaus. Sie hielt das System von North Carolina nicht gerade für das beste. Manche Fälle bearbeiteten Dr. Odom und die forensische Abteilung der Polizei vor Ort. Andere Leichen wurden nach Chapel Hill zum Chef der dortigen Gerichtsmedizin geschickt. Das sollte einer begreifen. Wahrscheinlich ging mal wieder alles nach sportlichen Gesichtspunkten. Hornets-Fans blieben in Charlotte, Tarheels-Anhänger bekamen dagegen ihren hübschen Y-Einschnitt in der großen Universitätsstadt verpaßt. Die Gerichtsmedizin von Mecklenburg County residierte an der North College Street, direkt gegenüber der neuen städtischen Bibliothek in ihrem preisgekrönten Bau. Mit einem Summen öffnete sich die gläserne Eingangstür vor West. Sie mußte sich ausweisen. Das Gebäude, das frühere Sears Garden Center, war heller und moderner als die meisten Leichenschauhäuser sonst. Als kürzlich in der Nähe mal wieder eine Maschine der USAir abgestürzt war, hatte man einen zusätzlichen Kühlraum eingerichtet. Es war eine Schande, daß man in North Carolina nicht geneigt schien, ein paar Gerichtsmediziner mehr in den Dienst des unvergleichlichen Mecklenburg County zu stellen, wie einige verdrießliche Senatoren die progressivste und sich am schnellsten entwickelnde Region im Staat gern abschätzig nannten.
Für mehr als hundert Mordopfer pro Jahr standen nur zwei forensische Pathologen zur Verfügung. Bei Wests Ankunft befanden sich beide im Obduktionsraum. Der tote Geschäftsmann sah, nachdem Dr. Odom mit der Autopsie begonnen hatte, auch nicht besser aus. Brewster stand in Einwegplastikschürze und Gummihandschuhen neben ihm am Tisch. Mit einem Nicken nahm er zur Kenntnis, daß West ihren Kittel im Rücken zuband. Denn West ging keine Risiken ein. Dr. Odoms Kittel war blutbespritzt und mit dem Skalpell, das er wie einen Stift zwischen zwei Fingern hielt, hob er gerade ein Stück schwarzes Gewebe ab. Unter der Haut seines Patienten befand sich eine dicke Fettschicht, die, so offen daliegend, nicht gerade einen schönen Anblick bot.
Der Assistent des Pathologen war ein dicker, unablässig schwitzender Mann. Er schob den Stecker einer elektrischen Säge in eine Anschlußleiste oberhalb des Seziertischs und nahm sich den Schädel vor. Das mußte sich West nicht unbedingt ansehen. Das Geräusch war schlimmer als das eines Zahnarztbohrers. Der Geruch des von der Säge angesengten Knochens und die Vorstellung, daß jetzt Gehirn freigelegt wurde, war einfach grauenvoll. West würde nicht gern als Mordopfer enden oder unter sonstwie ungeklärten Umständen ums Leben kommen. So etwas sollte mit ihrem nackten Körper nicht geschehen, nicht unter den Blicken von Leuten wie Brewster. Genausowenig gefiel ihr der Gedanke, daß Fotos von ihr herumgereicht und von Gott weiß wem kommentiert würden. »Schußverletzungen von aufgesetzter Waffe, Eintrittsöffnungen hier hinter rechtem Ohr.« Dr. Odom deutete, wohl speziell für sie, mit dem blutigen Finger auf die entsprechende Stelle. »Großes Kaliber. Gleicht einer Exekution.«
»Genau wie bei den anderen«, stellte Brewster fest.
»Haben Sie Patronenhülsen gefunden?« fragte Dr. Odom.
»Kaliber fünfundvierzig, Winchester, wahrscheinlich Silvertips«, antwortete West und mußte dabei erneut an Brazils Artikel denken und an all die Details, die er veröffentlicht hatte. »Jedes Mal fünf. Der Täter hat sich nicht die Mühe gemacht, die Hülsen einzusammeln. Scheint ihm gleichgültig zu sein. Wir müssen das FBI benachrichtigen.«
»Scheißpresse«, sagte Brewster.
West war nie in Quantico gewesen, obwohl sie immer davon geträumt hatte, die National Academy des FBI zu absolvieren. Sie galt schließlich als das Oxford der Polizeiausbildung. Aber seinerzeit war sie dafür zu beschäftigt gewesen. Und dann wurde sie immer weiter befördert. Schließlich kam für sie nur noch ein Kurs für leitende Polizisten in Frage. Das hieß soviel, wie daß ein Haufen dickbäuchiger Chiefs, Assistant Chiefs und Sheriffs auf einem
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