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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Armbewegung befreite er sich aus ihrem Griff, schloß seinen Wagen auf und stieg ein.
    »Sie haben mich reingelegt, Andy«, sagte West noch. Brazil ließ den Motor an und verließ mit quietschenden Reifen das Parkdeck. West kehrte zum LEC zurück, ging aber nicht sofort in die Ermittlungsabteilung. Sie hatte noch etwas zu erledigen, ihr Ziel war das Archiv. Hier saßen Frauen in besonderen Uniformen und archivierten den Lauf der Welt. West hatte allen Grund, diese Mädchen zu hofieren, ganz besonders Wanda. Wandas Gewicht schwankte zwischen hundertfünfundzwanzig und hundertfünfzig Kilo. Sie tippte einhundertfünf Worte in der Minute. Wenn West ein Protokoll brauchte oder eine Vermißtenanzeige an das NCIC, das Nationale Zentralregister, weiterzuleiten hatte, entpuppte sich Wanda entweder als Engel oder als Satan persönlich. Das hing stets vom Zeitpunkt ihrer letzten Nahrungsaufnahme ab. Einmal im Monat brachte West einen Korb voll Hähnchengerichte vom »Kentucky Fried Chicken« vorbei und zwischendurch, je nach Jahreszeit, Obstkuchen oder Weihnachtsplätzchen. West trat an den Tresen und pfiff leise, um Wanda auf sich aufmerksam zu machen. Wanda liebte West. Insgeheim wäre sie gern Detective gewesen und hätte für den Deputy Chief gearbeitet.
    »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte West. Wie so oft drückte ihr Polizeikoppel schmerzhaft auf die Wirbelsäule.
    Wanda warf einen finsteren Blick auf den Namen, den West auf ein Stück Papier gekritzelt hatte.
    »Der Herr sei mir gnädig«, sagte sie kopfschüttelnd. »Daran erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen.«
    West hatte den Eindruck, daß Wanda noch mehr zugenommen hatte. Gütiger Gott. Im Straßenverkehr brauchte Wanda eine Doppelspur für sich allein.
    »Sie setzen sich erst einmal.« Wanda deutete mit dem Kinn auf einen Stuhl, als hätte sie es mit einer Taubstummen zu tun. »Ich hole den Mikrofilm.«
    Während Wandas Wasserträgerinnen munter tippten, stapelten und ordneten, setzte West die Brille auf und ging den Mikrofilm im einzelnen durch. Was sie in den alten Artikeln über Brazils Vater lesen mußte, berührte sie schmerzlich. Er hatte mit Vornamen ebenfalls Andrew geheißen, wurde aber Drew genannt. Er war Cop gewesen, als West gerade erst anfing. Sie hatte seine Geschichte längst vergessen und daher auch keine Verbindung zu seinem Sohn gezogen. In diesem Moment jedoch stand ihr die Tragödie wieder deutlich vor Augen, und sie sah Brazils Leben plötzlich in einem anderen Licht.
    Drew Brazil war damals sechs unddreißig Jahre alt und Detective im Raubdezernat gewesen. Eines Tages hielt er in seinem Zivilfahrzeug an einer roten Ampel. Ein aus kurzer Distanz abgegebener Schuß traf ihn in die Brust. Er war auf der Stelle tot. West nahm sich viel Zeit für die Lektüre der Artikel und sah sich lange sein Bild an. Dann ging sie nach oben und nahm sich den Fall vor, der seit zehn Jahren niemanden mehr interessiert hatte. Schließlich war er ausnahmsweise schnell aufgeklärt worden, und der Dreckskerl von Täter saß noch immer in der Todeszelle. Die Fotos in der Ermittlungsakte zeigten Drew Brazil als einen gutaussehenden Mann. Auf einem trug er eine lederne Bomberjacke, die West bekannt vorkam. Die Tatortfotos versetzten ihr immer wieder einen Schlag in die Magengrube. Er lag tot auf dem Rücken auf der Straße. Seine offenen Augen starrten in die Frühlingssonne. Es war ein Sonntagmorgen gewesen. Eine Kugel, Kaliber 45, hatte sein Herz fast in zwei Teile gerissen. Zur Demonstration hatte Odom zwei seiner dicken Finger durch das Loch geschoben. Das durfte Andy Brazil junior niemals zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte West ohnehin nicht vor, jemals wieder ein Wort mit ihm zu wechseln.

Kapitel 5
    Auch Brazil suchte im Archiv nach Zeitungsartikeln. Es war erstaunlich, wie wenig im Laufe der Jahre über Virginia West geschrieben worden war. Er scrollte durch kurze Artikel und Schwarzweiß-Fotos, die zu einer Zeit aufgenommen worden waren, als sie die Haare noch lang trug und sie unter ihrem Polizeihut hochsteckte. Sie war die erste Frau, die jemals zum »Neuling des Jahres« gewählt worden war, und das beeindruckte ihn ziemlich.
    Die Archivarin war ebenfalls beeindruckt. Verstohlen sah sie Andy Brazil immer wieder an. Jedesmal, wenn er ihr Reich betrat, und das war nicht gerade selten, machte ihr Herz einen Sprung. Noch nie hatte sie erlebt, daß jemand seine Geschichten so exakt recherchierte wie dieser junge Mann. Ganz gleich, worüber er

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