Die Hornisse
Die beiden sahen einander reglos an.
»Ich will Ihnen helfen.« Brazil war bewegt.
Im Schein der Straßenlaterne sah man noch Glassplitter und dunkle Flecken auf dem Asphalt und auch den beschädigten Baum, um den sich der Mercedes gewickelt hatte. Wieder stiegen Johnson die Tränen in die Augen. Sie wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Dieser Reporter, der den Blick nicht von ihr ließ, demütigte sie. Ein neuer Weinkrampf wollte in ihr hochsteigen. Doch sie hatte ja noch ihre Pistole, die der ganzen Sache ein Ende bereiten konnte.
»Als ich zehn war«, sagte der Reporter schließlich, »war mein Vater hier als Cop auf den Straßen. Er war ungefähr so alt wie Sie, als er im Dienst getötet wurde. Ich glaube, ich weiß, was Sie fühlen.« Mit Tränen in den Augen sah Johnson zu ihm auf. »Zwanzig Uhr zweiundzwanzig, am neunundzwanzigsten März«, fuhr Brazil mit zitternder Stimme fort. »Es war ein Sonntag. Er war in Zivil und verfolgte ein gestohlenes Fahrzeug in einen fremden Bezirk hinein. Er hätte in Adam Two keine Verkehrskontrolle machen sollen. Die Verstärkung kam nicht. Oder nicht rechtzeitig. Er hat sein Bestes gegeben...« Seine Stimme versagte, und er räusperte sich. »Er hatte nie die Chance, den Sachverhalt aus seiner Sicht zu erzählen.«
Brazil starrte in die Dunkelheit. Zornig sah er die Straße, sah er die Nacht vor sich, die auch ihm einen Teil seines Lebens genommen hatten. Er hieb mit der Faust auf das Wagendach. »Mein Dad war kein schlechter Cop!« rief er.
Johnson war seltsam ruhig geworden und empfand auf einmal eine große innere Leere. »Am liebsten wäre ich an seiner Stelle«, sagte sie. »Ich wäre am liebsten tot.«
»Nein«. Brazil beugte sich auf Augenhöhe zu ihr hinunter. »Nein«. Er sah den Trauring an ihrer linken Hand, die das Lenkrad hielt, und faßte durch das Fenster nach ihrem Arm. »Sie dürfen keine Menschen zurücklassen«, sagte er.
»Ich habe heute meine Dienstmarke zurückgegeben«, sagte Johnson.
»Das hat man ihnen nahegelegt?« protestierte er. »Es gibt keinen Beweis dafür, daß Sie.«
»Niemand hat mir etwas nahegelegt«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Aber man hält mich für ein Monster!« Sie sackte erneut in sich zusammen.
Er widersprach entschlossen. »Das können wir ändern. Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Sie entriegelte die Wagentür, und er stieg ein.
Kapitel 10
Chief Hammer wässerte gerade ihre Pflanzen, als West am nächsten Morgen in ihr Büro trat. West hatte sich auch diesmal wieder ein gesundes Frühstück von Bojangle's mitgebracht: Kaffee, zur Abwechslung ein Brötchen mit Würstchen und Ei, etwas Gebäck. Hammers Telefon schrillte wie verrückt, aber sie untersuchte ungerührt ihre Orchideen. Grußlos sah sie auf. Sie war bekannt für ihre unvermittelten Gesprächseröffnungen. Immer mit einem Anflug eines Arkansas-Akzents.
»Also«. Sie sprühte. »Er gerät also in eine Verfolgung. Sie endet mit zwei Festnahmen. Im Alleingang klärt er eine Einbruchserie bei Radio Shack auf, die die Stadt seit acht Monaten in Atem hält.« Prüfend betrachtete sie eine exotische weiße Blüte und sprühte weiter. Hammer sah umwerfend aus in ihrem schwarzen Seidenkostüm mit dezentem Nadelstreifen, einer hoch geknöpften schwarzen Seidenbluse und schwarzen Onyxperlen. West gefiel der Stil ihrer Vorgesetzten sehr. Sie war stolz darauf, für eine Frau zu arbeiten, die so klasse aussah, tolle Beine hatte, respektvoll zu Mensch und Pflanze war und es dennoch mit den Besten des gesamten Teams aufnehmen konnte.
»Und irgendwie ist es ihm gelungen, die Wahrheit aus Johnson herauszubekommen.« Hammer nickte in Richtung Morgenzeitung auf ihrem Schreibtisch. »Er hat mit dem Verdacht aufgeräumt, daß sie den Tod dieser armen Leute zu verantworten hat. Sie wird nicht den Dienst quittieren.«
Hammer trat zu einem exotischen Baum in der Nähe des Fensters und zupfte trockene Blätter von den buschigen Zweigen, die immer Früchte trugen. »Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen«, fuhr sie fort. »Alles er. Dabei war Brazil nicht einmal mit uns auf Streife.« Sie unterbrach ihre Tätigkeit und sah ihre stellvertretende Polizeichefin an. »Sie haben recht, er kann nicht allein da draußen rumfahren. Weiß der Himmel, was er noch anstellen würde, wenn er in Uniform wäre. Ich wünschte, ich könnte ihn dreitausend Meilen von hier in eine andere Stadt versetzen.«
West lächelte, während ihre Chefin sich den Spinnmilben widmete und mit einer
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