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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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was sie mit dieser Aussage anfangen sollte. Sie wußte nur, daß der Reporter log. Alle logen sie. Weed hätte ihren Kopf darauf verwettet, daß dieser Typ da hinten geparkt hatte, um in seiner Dienstzeit ein Nickerchen einzulegen, sich vielleicht einen runterzuholen und ein bißchen Gras zu rauchen oder alles zusammen.
    »Von wem verfolgt?« Weed notierte die Aussagen auf dem Metallklemmbrett auf ihrem Schoß.
    »Ein Typ in einem weißen Ford«, sagte Brazil. »Ich kenne ihn nicht.«
    Als Brazil den Tatort am Southpark verließ, war es spät geworden. Keiner der anwesenden Beamten hatte auch nur das kleinste Wort des Dankes für ihn übrig gehabt. Wenn er richtig rechnete, war jetzt noch etwa eine Stunde totzuschlagen. Dann mußte er zurück zur Redaktion und zusammenfassen, was er in dieser Acht-Stunden-Schicht erlebt hatte. Besonders viel war das in seinen Augen nicht. Er war nicht weit von der Stelle in Myers Park, wo sich Michelle Johnsons entsetzlicher Unfall ereignet hatte. Aus irgendeinem Grund ließen ihn die Ereignisse dieser tragischen Nacht nicht los, und auch Michelle Johnson ging ihm nicht aus dem Sinn. Langsam fuhr er an den Villen von Eastover vorüber und stellte sich ihre Bewohner vor. Was mochte in ihnen vorgehen, wenn sie an Nachbarn dachten, die so plötzlich ums Leben gekommen waren? Die Familie Rollins hatte am Mint Museum direkt um die Ecke gewohnt. Brazil hielt vor dem stattlichen, weißgetünchten Backsteinbau mit seinem Kupferdach an. Er blieb sitzen und sah sich um. Es brannte Licht, um potentielle Einbrecher abzuschrecken. Denn von der Familie war niemand im Haus, und das würde auch immer so bleiben. Er dachte an die Mutter, den Vater und drei kleine Kinder, deren Leben in einem einzigen gewaltsamen Augenblick ausgelöscht worden war. Ihre Lebenslinien hatten ebenso grausam wie zufällig den falschen Weg gekreuzt, und mit einem Schlag war alles vorbei gewesen.
    Brazil hatte selten von reichen Leuten gehört, die bei Autounfällen oder Schießereien ums Leben kamen. Hin und wieder fiel mal ein Privatflugzeug vom Himmel. In den achtziger Jahren hatte ein Unhold Myers Park unsicher gemacht und, wie er sich erinnerte, Frauen in Serie vergewaltigt. Brazil stellte sich vor, wie ein junger Mann mit ins Gesicht gezogener Kapuze an Haustüren klopfte und nur eine Absicht verfolgte -eine Frau zu vergewaltigen, die allein zu Hause war. Verbarg sich Neid hinter solcher Roheit? Ein Ihr-könnt-mich-mal, ihr Reichen? Brazil versuchte, sich in so einen jungen Gewaltverbrecher hineinzuversetzen, während er an den erleuchteten Fenstern vorüberfuhr.
    Ihm wurde bewußt, daß der Vergewaltiger sich möglicherweise genauso verhalten hatte, wie Brazil selbst in dieser Nacht. Unauffällig umsehen, anschleichen, allerdings eher zu Fuß, ein Objekt auskundschaften und sich einen Plan zurechtlegen. Und die schreckliche Tat selbst hatte am Ende weniger Bedeutung als die Phantasien, die zu ihr geführt hatten. Für Brazil gehörte eine Vergewaltigung zu den schlimmsten Dingen, die er sich vorstellen konnte. Oft genug schon waren ihm in seinem kurzen Leben Proleten so eindeutig und höhnisch begegnet, daß er eine Vergewaltigung wohl genauso fürchtete wie eine Frau. Nie würde er vergessen, was Chief Briddle wood vom Sicherheitsdienst am Davidson College ihm einmal gesagt hatte. Geh nie ins Gefängnis, Junge. Du wirst keinen einzigen Augenblick deiner Zeit dort aufrecht stehend verbringen.
    Der Unfall war genau an dem Straßenknoten zwischen der Selvyn und den verschiedenen Queens Roads passiert. Brazil erkannte die Stelle sofort wieder. Was er allerdings nicht erwartet hatte, war der Nissan, der am Straßenrand parkte. Das war ja Officer Michelle Johnson. Sie war an die Unfallstelle zurückgekommen und saß weinend in ihrem Privatwagen. Brazil hielt an. Er stieg aus und ging mit festem Schritt, als handle er dienstlich, auf das Fahrzeug zu. Der Anblick der weinenden Johnson durch das Fahrerfenster ging ihm ans Herz. Sie zuckte erschreckt zusammen und griff nach ihrer Pistole. Dann erkannte sie den Reporter. Ihr Schreck verwandelte sich in Wut. Sie drehte das Fenster herunter. »Hauen Sie verdammt noch mal ab!« sagte sie. Wie angenagelt blieb er stehen und starrte sie an. »Geier!« schrie sie. »Ihr scheiß Geier!«, und ließ den Motor an. Brazil erstarrte zur Salzsäule. Für einen Reporter war das ein ungewöhnliches Verhalten und so atypisch, daß Johnson stutzte. Auf einmal wollte sie nicht mehr wegfahren.

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