Die Hornisse
daß nicht jedes Wort, das jemand sagt, gleich herausposaunt, wiederholt und auch noch gedruckt werden muß. Kapiert?« Er nickte und verzog gleichzeitig die Lippen. »Außerdem trage ich keine hohen Absätze, und ich will auch nicht, daß irgend jemand das glaubt«, fügte sie hinzu.
»Wie kommt das?« fragte er.
»Wie kommt was?«
»Daß Sie nicht wollen, daß die Leute das denken«, sagte er.
»Ich will überhaupt nicht, daß die Leute über mich nachdenken, punktum.«
»Wie kommt es, daß Sie nie hohe Absätze tragen oder Röcke?« Er wollte sich nicht kleinkriegen lassen.
»Das geht Sie, verdammt noch mal, überhaupt nichts an.« Sie schleuderte die Zigarette aus dem Fenster. Der Polizeifunk meldete sich und gab eine Adresse am Wilkinson Boulevard durch. Für Eingeweihte hieß sie die Paper Doll Lounge. Den Striptease-Laden gab es in Charlotte wohl schon seit der Zeit, als der Sex erfunden wurde. Hier traten Frauen auf, die außer einem kleinen String-Tanga nichts auf dem Leib trugen, und Männer mit dicken Bündel Dollarnoten in den Jeans, die sich von ihnen in Aufruhr versetzen ließen. Heute Abend gossen sich ein paar Gestrandete den Inhalt ihrer wie immer höchst raffiniert durch braune Papiertüten getarnten Bierflaschen hinter die Binde. In der Nähe wühlte ein behinderter junger Mann munter in einem Müllcontainer.
»Sie ist nicht viel älter als ich«, erzählte Brazil West von der jungen Prostituierten, die er ein paar Nächte zuvor gesehen hatte. »Sie hatte kaum noch einen Schneidezahn im Mund, die Haare waren lang und ungewaschen, und tätowiert war sie auch noch. Aber sie muß einmal hübsch gewesen sein. Am liebsten würde ich mit ihr reden, um herauszufinden, warum sie so geworden ist.«
»Diese Menschen erzählen immer wieder die gleichen Geschichten, immer sind sie von jemandem mißbraucht worden«, sagte West etwas unduldsam. Ihr gefiel sein Interesse an einer Nutte, die vielleicht einmal hübsch gewesen war, nicht.
Sie stiegen aus. West ging auf einen Betrunkenen mit einer Chick-Fil-A-Kappe auf dem Kopf zu. Er schwankte und klammerte sich an seine Flasche Colt 45.
»Wir haben wohl viel Spaß heute abend«, sagte West zu ihm. Er taumelte, war aber freundlich. »Cap'n«, lallte er. »Seh'n wirklich toll aus. Wer is'n das da?«
»Sie können es ausschütten oder ins Gefängnis wandern«, sagte West.
»Ja, Ma'am. Is 'ne leiche Enschei'ung! Keine Fra'e!« Er leerte seine Bierflasche auf den Parkplatz und fiel dabei fast der Länge nach hin. Bier spritzte auf Brazils Uniformhose und die makellos polierten Stiefel. Er machte gute Miene zum bösen Spiel. Er war eben etwas zu spät zurückgesprungen, und nun überlegte er, wo wohl die nächste Herrentoilette war. Er war sicher, West würde ihn sofort hinbringen. Sie ging die Reihe der Betrunkenen ab und leerte ihr Lebenselexier auf dem Asphalt aus. Sie sahen ihr zu, zählten in Gedanken ihr Geld und rechneten sich aus, wie lange es dauern würde, bis sie sich bei Ray's Cash & Carry, im Texaco-Lebensmittelmarkt oder bei Snookies Nachschub besorgen könnten.
Brazil folgte West zum Wagen zurück. Sie stiegen ein und schnallten sich an. Brazil war der säuerliche Geruch unangenehm, der vom Saum seiner Hosenbeine aufstieg. Auf diesen Teil des Jobs konnte er gut verzichten. Betrunkene verstörten ihn zutiefst, und er sah wütend aus dem Fenster zu den Männern hinüber. Sie schwankten davon und würden schon wieder trinken, noch bevor West und Brazil einen Kilometer weiter waren. So waren diese Menschen nun einmal, abhängig, verbraucht, nutzlos und den anderen ein Stein des Anstoßes.
»Wie kann man nur so tief sinken?« murmelte er und sah hinaus. Sie waren abfahrbereit. »Das kann jedem von uns passieren«, sagte West. »Und das ist das Beängstigende daran. Ein einziges Bier kann es auslösen. Bei jedem von uns.«
Es hatte Zeiten in ihrem Leben gegeben, in denen auch sie sich auf diesem Weg befand. Abend für Abend hatte sie sich in den Schlaf getrunken, und oft erinnerte sie sich nicht mehr an das, was sie als letztes gedacht oder gelesen hatte. Häufig brannte noch Licht, wenn sie wieder aufwachte. Der behinderte junge Mann kam fröhlich auf ihren Wagen zugeschlendert. West fragte sich, durch welchen Trick des Schicksals es manche Menschen auf ihre Seite verschlug, andere dagegen auf dunkle Parkplätze und in die Nachbarschaft von Unrat. Nicht jeder hatte die Wahl. Dieser junge Mann dort hatte sie nicht gehabt. Die Polizei kannte ihn
Weitere Kostenlose Bücher